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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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nicht mehr bin?«
    Ich warf einen schnellen Blick auf den Berg von Briefen auf seinem Schreibtisch. Was meinte er? Es sah so aus, als würde er jeden kennen. Erst an diesem Morgen war ein Brief der Königlichen Akademie der Naturwissenschaften in London gekommen. Weil ich ahnte, dass er etwas Tiefsinnigeres meinte, antwortete ich intuitiv: »Ich, Sir. Ich werde mich an Sie erinnern.«
    »Du! Na ja, ich nehme an, ich habe keine große Wahl in dieser Angelegenheit.« Seine Augen wanderten zum Phonographen. »Weißt du, dass es nicht immer mein Wunsch war, ein Wissenschaftler zu sein? Als ich noch viel jünger war, war es mein großer Ehrgeiz, ein Dichter zu sein.«
    Hätte er erklärt, sein Gehirn bestünde aus Schweizer Käse, ich wäre nicht verblüffter gewesen.
    »Ein Dichter, Dr. Warthrop?«
    »Oh ja! Der Wunsch ist verschwunden, aber die Veranlagung, wie du vielleicht bemerkt hast, ist noch vorhanden. Ich war ganz der Romantiker, Will Henry, falls du dir das vorstellen kannst.«
    »Was ist dann passiert?«, fragte ich.
    »Ich wurde erwachsen.«
    Er legte einen seiner dünnen, grazilen Finger auf die Zeresinwalze und fuhr mit der Spitze über die Vertiefungen und Rillen wie ein Blinder, der Brailleschrift liest.
    »Es liegt keine Zukunft darin, Will Henry«, sagte er nachdenklich. »Die Zukunft gehört der Wissenschaft. Das Schicksal unserer Spezies wird von Leuten wie Edison und Tesla, nicht Wordsworth oder Whitman bestimmt werden. Die Dichter werden an den Wassern zu Babel liegen und weinen, vergiftet von der Frucht, die dem Boden entsprießt, auf dem die Leichen der Musen verwesen. Die Stimmen der Dichter werden von den Getrieben des Fortschritts übertäubt werden. Ich sehe den Tag voraus, da alles Gefühl auf eine chemische Gleichung in unseren Gehirnen reduziert sein wird – Hoffnung, Glaube, sogar Liebe –, ihre exakte Lage genau definiert und ausgewiesen, sodass wir darauf zeigen können und sagen: ›Hier, in dieser Region unserer Großhirnrinde, liegt die Seele.‹«
    »Ich habe Gedichte gern«, sagte ich.
    »Ja, und manche schnitzen gern, Will Henry, deshalb werden sie immer Bäume finden.«
    »Haben Sie welche von Ihren Gedichten aufgehoben, Doktor?«
    »Nein, habe ich nicht, wofür du dankbar sein solltest. Sie waren furchtbar.«
    »Worüber haben Sie geschrieben?«
    »Worüber jeder Dichter schreibt. Es gelingt mir einfach nicht, es zu begreifen, Will Henry, deine unheimliche Begabung, den nebensächlichsten Aspekt der Frage begierig aufzugreifen und sie damit zu Tode zu prügeln.«
    Um zu beweisen, dass er im Irrtum war, sagte ich: »Ich werdeSie nie vergessen, Sir. Niemals. Und die ganze Welt wird es auch nicht. Sie werden berühmter sein als Edison und Bell und der ganze Rest zusammen. Dafür werde ich sorgen.«
    »Ich werde ins Vergessen treiben, den wertlosen Staub, dem ich entsprungen, unbeweint, unverehrt und unbesungen … Das ist Poesie, falls du dich wunderst. Sir Walter Scott.«
    Er stand auf, und jetzt leuchtete sein Antlitz von der Stärke seiner Leidenschaft, schrecklich und sonderbar schön zugleich, der Gesichtsausdruck des Mystikers oder des Heiligen, entrückt den Zwängen des Egos und allen fleischlichen Begierden.
    »Aber ich bin nichts. Mein Andenken ist nichts. Die Arbeit ist alles, und ich will nicht erleben, dass sie lächerlich gemacht wird. Auch wenn der Preis mein Leben selbst sein wird, werde ich das nicht durchgehen lassen, Will Henry. Falls von Helrung Erfolg beschieden sein sollte – falls wir zulassen, dass unsere edle Sache auf das Studium des albernen Aberglaubens der Massen reduziert wird –, sodass wir über die Natur des Vampirs oder des Zombies schwadronieren, als säßen sie am selben Tisch wie der Mantikor oder der Anthropophagus , dann ist die Monstrumologie so tot wie die Alchemie, so lächerlich wie die Astrologie, so ernst zu nehmend wie eine der Missgeburten aus Mr. Barnums Sonderausstellungen!
    Erwachsene Männer, gebildete Männer, Männer höchster Weltklugheit und gesellschaftlicher Kultiviertheit bekreuzigen sich wie der ignoranteste Bauer, wenn sie an diesem Haus vorüberkommen. ›Welch sonderbare und unnatürliche Vorgänge da drin vorgehen, in dem Hause Warthrop!‹ Wo du selbst doch bestätigen kannst, dass daran nichts Sonderbares oder Unnatürliches ist, dass das, womit ich mich beschäftige, ganz und gar natürlich ist, dass ohne mich und Männer wie mich diese Narren vielleicht die Erfahrung machen müssten, dass sie an ihren eigenen

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