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Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes

Titel: Der Monstrumologe Und Die Insel Des Blutes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Warthrop sich hinunter und packte behutsam den behelfsmäßigen Kokon aus, bis ein Kind zum Vorschein kam, ein Junge, nicht älter als fünf, schätzte ich, in den Endstadien des Ausgesetztseins, mit riesigen schwarzen Augen, mehr beuteltierartig als menschlich, und einem schwärenden Gesicht, das von Dutzenden dornenartiger Geschwülste gespalten wurde. Er war von der Hüfte aufwärts nackt; seine Hose hing in Fetzen an ihm. Lange Risswunden liefen über seine Brust, wie die Bissspuren eines Tigers; aus den Wunden sickerte frisches Blut, und seine Lippen glänzten davon, und es tropfte ihm von den Nägeln, und mir fiel wieder ein, was der Doktor mir erzählt hatte, und mir wurde klar, dass der Junge der letzte Überlebende war und er sich gegen sich selbst gewandt hatte; er fraß sich bei lebendigem Leibe auf.
    Und als das Licht ihn traf, zuckte sein Körper heftig zusammen, sein Mund öffnete sich zu einem gurgelnden Schrei, und er erbrach eine Masse aus geronnenem Blut, vermischt mit einer klaren, viskosen Flüssigkeit. Der Junge stürzte auf das Licht zu, aber er war sehr schwach; er brach auf dem Bauch zusammenund scharrte auf dem harten Stein. Sein Rücken krümmte sich, und die Haut zog sich über den Knochenvorsprüngen, die aus seiner Wirbelsäule wuchsen, straff und riss dann auseinander, vom Halsansatz bis zum Kreuz, wie ein Reißverschluss, der aufgeht.
    Awaale hörte meinen Schrei des Abscheus und stürzte ins Haus, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Monstrumologe zu dem sich windenden Körper hintrat, den Revolver auf den kleinen Kopf richtete und mit einem schnellen Krümmen seines Fingers eine erlösende Kugel in das jagte, was von dem Gehirn des Kindes noch übrig war.
    Der ehemalige Pirat (der die Anzahl derer, die er getötet hatte, nicht mehr zählen konnte; Awaale den Teufel hatten sie ihn genannt) starrte Warthrop einen langen Moment verständnislos an. Dann blickte er auf das tote Kind zu Füßen des Doktors. Eins der Händchen war auf Warthrops Schuh gefallen und umklammerte ihn, als wäre er sein Lieblingsspielzeug gewesen, und das Blut aus der Wunde breitete sich langsam unter seinem kleinen, runden Kopf aus und bildete einen halbmondförmigen Umriss, der mich an ein byzantinisches Gemälde des Christuskinds erinnerte.
    Ohne ein Wort zu sagen, wich Awaale durch die offene Tür zurück ins Freie. Die Schultern des Doktors entspannten sich – Awaales Auftauchen hatte ihn mehr aus der Fassung gebracht als das Erschießen des Kindes –, und er verlangte nach seiner Instrumententasche.
    »Nur ein oder zwei Proben – der erste Frische, den wir gefunden haben. Ich brauche dich hierfür nicht, Will Henry. Vielleicht solltest du mit Awaale Wache halten.«
    »Ja, Sir.«
    »Oh, den hier solltest du besser mitnehmen.« Er drückte mir den Revolver in die Hand. »Du fürchtest dich doch nicht davor, ihn zu benutzen, oder?«
    »Nein, Sir.«
    »Das habe ich auch nicht angenommen.«
    * * *
    Awaale saß auf der Erde direkt links vom Eingang, lehnte mit dem Rücken an der Hauswand und hatte das Gesicht dem Meer zugewandt. Ich setzte mich neben ihn. Wir waren nur eine Meile vom Ozean entfernt, aber es ging keine Brise. Die Luft war still und schwer von Staub, und hinter uns ragten, wie eine große graue Festungsmauer, die grauen Klippen des Diksam-Plateaus auf.
    »Wer ist dieser Mensch?«, fragte er mich. »Wer ist dieser dhaktar , dem du dienst?«
    »Er ist ein Monstrumologe.«
    »Ein seltsamer Name, walaalo . Was bedeutet er?«
    »Jemand, der Monster studiert.«
    »Was für Monster?«
    »Die, die des Studierens wert sind, nehme ich an.«
    »Der da drin – der ganz wie ein Kind aussah, wie ein kleiner Junge –, er war ein Monster?«
    »Er war krank, Awaale – sehr krank. Der Doktor hat das Einzige getan, was er konnte. Er hat … Er hat ihm geholfen.«
    »Ihm geholfen ? Was für eine ausgesprochen sonderbare Art von Medizin diese Monstrumologie doch ist!« Er schaute mich an. »Und du bist jetzt wie lange bei ihm?«
    »Zwei Jahre inzwischen.« Ich konnte seinem abschätzenden Blick nicht begegnen. Ich behielt das Gesicht auf das unsichtbare Meer gerichtet.
    »Und solche Sachen« – er meinte das, was sich in dem kleinen Steinhaus zugetragen hatte – »die sind nichts Neues für dich?«
    »Nein, Awaale«, sagte ich. »Die sind nichts Neues für mich.«
    »Ach«, sagte er. »Ach, walaalo !« Seine gewaltige Hand umschlang meine. »Es tut mir leid; das habe ich nicht gewusst. Du hast das

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