Der Morgen der Trunkenheit
die Schneiderin. Wir gingen hinaus, damit sie ungestört frühstücken konnte. Wirwußten, daß sie zu Hause ein Frühstück zu sich genommen hatte, doch das war kein Vergleich zu diesem hier. Das konnte man sich nicht entgehen lassen.
Meine Mutter hatte mittags Gäste. Es sollten die Tanten kommen, die Frau des Onkels väterlicherseits, die Tante väterlicherseits und die Frau des Onkels mütterlicherseits. Aus der Küche jenseits des Hofs stieg der Duft von Huhn, erstklassigem Reis aus Rasht und Fett aus Kermanshah auf und benebelte unsere Sinne. Meine Mutter setzte sich auf den Schemel neben die Schminkutensilien. Ich kann mich erinnern, daß man im Gästezimmer des Andaruni , das wir das Fünftürige nannten, rundum schwere Sessel mit dunkelrotem Samtbezug aufgestellt hatte. Je zwei Sesseln war ein relativ kleines Tischchen aus Walnußholz zugeordnet. Sommers saßen wir im Wohnzimmer, das rundum mit Sitzkissen ausgelegt war. Die Sitzkissen waren bestickt und die Rückenkissen mit Pailletten verziert. Winters gab es den Korsi. Im Winter liebte es mein Vater, im Fünftüren-Zimmer neben dem Kamin zu sitzen, dem Knacken der Scheite zuzuhören und mich aus Hafis’ Gedichtband oder Nizamis Leili und Madjnun vorlesen zu lassen. Es war sehr gemütlich.
Die Frau des Droschkenkutschers Firuz, die wir ihrer dunklen Haut wegen Dadde Chanum nannten, hatte Mutters Schminkkästchen gebracht und blieb mit einem Fächer in der Hand neben ihr stehen. Ständig fächerte sie ihr zu, sie durfte nicht schwitzen, sonst mischte sich das Zinkweiß auf ihrem Gesicht mit dem Rouge. Ich war völlig in ihren Anblick versunken. Meine Mutter schalt mich: »Hast du denn sonst nichts zu tun, Mädchen? Was starrst du so? Bei solchen Dingen gibt es für ein Mädchen nichts zu sehen.« Und während sie sich Antimon auf die Lider strich, sagte sie: »Geh zu Enis Chanum. Gott gebe, daß dein Kleid bis heute abend fertig genäht ist.«
Das Kleid wurde bis zum Abend nicht fertig. Schließlich sei es kein Reissack, wie Enis Chanum bemerkte. Da vereinbart worden war, daß sie mir außer zwei Kleidern noch einen geblümten weißen Tchador aus Voile nähen sollte und all das mindestens zwei bis drei Tage in Anspruch nehmen würde, bat meine Mutter Enis Chanum, ein paar Nächte in unserem Haus zu bleiben. Natürlich kam das Enis Chanum gerade recht. Sie hatte unser Haus vollkommen in Beschlag genommen. Doch mußte jemand ihrem Sohn und ihrerSchwiegertochter Bescheid geben. Meine Mutter sagte, Firuz Agha solle mit der Kutsche hinfahren und Bescheid geben. Doch der Weg dahin war weit und verwinkelt. Abends, als die Gäste aufbrachen, bestand meine jüngere Tante darauf, mich zu sich nach Hause mitzunehmen. Meine Mutter willigte ein unter der Bedingung, daß ich am nächsten Morgen früh zum Anprobieren meiner Kleider zurückkehre.
Wir wollten gerade in die Kutsche meiner Tante einsteigen, als der Schneiderin Enis Chanum ein Gedanke in den Sinn kam: »Wenn es keine Umstände macht, an der dritten Abzweigung Ihrer Gasse liegt in der Nähe des Trinkbrunnens ein Schreinerladen. Der Lehrling kennt den Weg zu unserem Haus. Sein Haus ist zwei, drei Gassen von unserem entfernt. Der Kutscher soll einen Augenblick am Laden halten und ausrichten, ich würde über Nacht hierbleiben, und bitten, daß er meinem Sohn Bescheid gibt. Dann braucht Firuz Chan nicht mehr zu unserer Wohnung zu fahren.«
Die Tante, meine Kusine, die etwa mein Alter hatte und ich, wir saßen munter und fröhlich hinten in der Kutsche. Ich war die letzte, die einstieg, und saß an der rechten Seite. Kaum waren wir ein Stück gefahren, da war uns dreien Enis’ Nachricht entfallen, der Kutscher jedoch war pflichtbewußt und hatte sie nicht vergessen. Die Kutsche hielt in der Nähe eines kleinen, verräucherten Ladens an. Es ging auf die Dämmerung zu. Die Werkstatt war angefüllt mit Holz und Brettern, Holzabfällen und Hobelspänen. In der Mitte stand jemand über einen alten Holztisch gebeugt und hobelte ein Brett ab. Er trug eine weite Hose aus schwarzem Serge, und sein weißes Kattunhemd, das über die Hose fiel, reichte bis zu den Knien. Die Ärmel hatte er hochgerollt, und die langen Haare, die ihm in die Stirn fielen, wogten mit den Bewegungen seines über das Brett geneigten Kopfes auf und ab. Er ähnelte eher einem Derwisch als einem Schreiner. Damals trugen die Männer die Haare kurz und pomadisiert am Kopf klebend, auch die Männer meiner eigenen Familie, soweit ich sie gesehen
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