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Der Morgen der Trunkenheit

Der Morgen der Trunkenheit

Titel: Der Morgen der Trunkenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fattaneh Haj Seyed Javadi
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hatte. Ebenso wie sämtliche Adlige. Doch diese Haare waren wild und ungebändigt.
    Als er die Kutsche halten hörte, hob er den Kopf und schaute auf. Sein Blick glitt vom Fuhrmann zu den drei weiblichen Fahrgästen mit Ausgeh- und Gesichtsschleier und irrte zurück zum Kutscher. Er war verblüfft. Was konnten die Frauen in dieser prächtigenKutsche wohl mit ihm zu tun haben? Der Kutscher rief: »Holla, junger Mann.«
    Ungerührt kam er nach vorn, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und sagte: »Ja, bitte!« Seine Handbewegung, die die Stirn vom Schweiß befreite, erschien mir reizend. Er war hübsch. Sonst nichts. Er hörte sich die Nachricht an und sagte: »Wird gemacht.«
    Weder sprach er mit uns, noch wir mit ihm. Und ich vergaß ihn.
    »Was für eine Borte hast du denn da gekauft, liebste Amme? Als ob ich eine Komödientänzerin wäre!«
    Meine Amme erwiderte protestierend: »Nun ja, Mahbube Djan, woher soll ich denn das wissen, mein Kind? Du sagtest, sie solle rosa sein, aber es gab keine. Da habe ich halt eine rote gekauft.«
    Meine Mutter nahm die Borte mißmutig in die Hand: »Ach, Amme. Ich hatte doch ein Muster mitgegeben.«
    »Ja, aber er hatte doch keine, Chanum Djan.«
    Ärgerlich sagte ich: »Dann geh ich selbst welche kaufen. Wo hast du sie gekauft?«
    »Am Eingang zum kleinen Bazar.«
    Meine Mutter sagte ungeduldig: »Nimm die Kutsche, damit du schnell zurück bist.«
    Die Amme sagte: »Ach wo, Chanum Djan, bis dahin sind es doch nur ein paar Schritte. Ich gehe selbst mit und bringe sie zurück.«
    Die Worte der Amme verblüfften mich. Wie kam es, daß diese träge Frau plötzlich so munter geworden war? Sag bloß, sie hatte gelobt, zur Heilung ihrer Kopfschmerzen zwei Kerzen anzuzünden. Die Ärmste hatte Migräne. Wer wußte damals schon etwas über Migräne?
    Enis Chanum sagte flehend: »Dann, Amme, sei so lieb und schau nach, ob der Schreiner meinem Sohn und meiner Schwiegertochter die Nachricht überbracht hat oder nicht. Es beunruhigt mich. Dieser Junge ist ein bißchen nachlässig. Sag ihm außerdem, daß er noch einmal zu uns nach Hause geht und Bescheid sagt, sie sollen sich keine Sorgen machen, wenn ich später komme. Vielleicht dauert meine Arbeit hier noch einen Tag länger.«
    Es war gegen Mittag. Der Schreinerladen war noch geschlossen. Also gingen wir einkaufen und besorgten die Borte. Bei der Rückkehrhörte ich von fern das Geräusch der Säge. Die Frau Amme sagte: »Sehr gut. Gott sei Dank hat er den Laden geöffnet. So ein fauler Hund! Mahbube Djan, wartest du, damit ich diese zwei Kerzen anzünden kann?«
    Ungeduldig stampfte ich mit dem Fuß auf den Boden.
    Die Amme flehte: »Sei so lieb, warte nur einen Augenblick.«
    »Dann mach schnell. Laß es nicht zu lange dauern.«
    »Willst du dem Schreinerlehrling Enis Chanums Nachricht überbringen, damit ich derweil die Kerzen anzünden kann? Aber sag deiner Frau Mama bloß nichts davon, daß ich Kerzen anzünde. Sag, die Amme hätte selbst mit dem Schreiner gesprochen. In Ordnung? Sonst macht sie mir die Hölle heiß.«
    Ungeduldig erwiderte ich: »Gut, geht in Ordnung. Zünde sie schnell an und komm nach. Ich gehe ganz langsam, damit du mich einholen kannst.«
    Es war sonnig, aber in der Nacht zuvor war ein heftiger Regen niedergegangen, der den Boden mit Schlamm bedeckt hatte. Als ich den Laden erreichte, war der junge Mann wie am Tag zuvor völlig ins Hobeln vertieft. Ich stellte mich an die Ladentür und war in Gedanken bei der Begutachtung der schlammigen Ränder meines Schleiers. Ich hob den Tchador etwas an und sagte unwillkürlich: »O weh!«
    Das Hobelgeräusch brach ab, und jemand sagte mit anziehender und wohlklingender Stimme: »Weh mir, junge Dame!«
    Ich hob den Kopf und sah seine Augen. Seinen dunklen, langgestreckten Hals und die unter der Haut seines Halses hervortretenden Muskeln; die hochgekrempelten Ärmel und seine kräftigen Arme; seine Haare, die ihm in die Stirn fielen; seine Adlernase und ein Grinsen um den Mund. War er hübsch? Ich weiß es nicht. War er häßlich? Ich weiß es nicht. Aber er war ein Mann. Er war männlich. Diese Arme konnten ein Ort der Zuflucht sein.
    Unter normalen Umständen hätte ich nicht einmal seinen Gruß erwidert. Es war unter meiner Würde, mit Menschen dieser Schicht Worte zu wechseln. Aber jetzt war Frühling. Was war in mich gefahren? Ich weiß es nicht. Ich sagte: »Warum weh Ihnen? Sind Sie denn ein Weh?«
    »Vermutlich bin ich es und weiß es selber

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