Der multiple Roman (German Edition)
»das Unglück (vielleicht auch die Wonne) der Sprache: dass sie für sich selbst nicht bürgen kann«. Und so, fügte Barthes hinzu, lag ein Charakteristikum von Sprache »vielleicht in diesem Unvermögen oder, um es positiv zu wenden: die Sprache ist ihrem Wesen nach Erfindung; will man sie zur Wiedergabe von Tatsächlichkeiten befähigen, so bedarf es eines enormen Aufwands«. [9]
Und vielleicht stimmt dies, auf gewisse Weise – vielleicht kann Sprache nie für sich selbst bürgen, so wie es eine Fotografie kann (obwohl selbst eine Fotografie nicht immer immun gegenüber Fiktionalität ist). Aber vielleicht ist eher dieser Wunsch nach Sicherheit selbst unnötig: Vielleicht braucht kein Leser diese Art Sicherheit, um daran glauben zu können, dass Wörter wahrheitsgetreue Zeichen sein können.
3
Und unter uns: Man kann mit mehr persönlichem Einsatz über Wörter nachdenken. Wie zum Beispiel Roman Jakobson, der vor den Kommunisten von Leningrad nach Prag floh, wo er 1934 in seinem Aufsatz »Was ist Poesie« die Auffassung vertrat, das verbale Zeichen in der Literatur sei immer doppeldeutig: das Zeichen sei zwar identisch mit seinem Objekt aber gleichzeitig auch nicht. Und dies sei kein Problem, schrieb Jakobson. Ganz im Gegenteil. Dies erst erlaube einem Zeichen überhaupt, treffend zu sein, weil
neben dem unmittelbaren Bewußtsein der Identität von Zeichen und Gegenstand (A gleich A I ), auch das unmittelbare Bewußtsein der unvollkommenen Identität (A ungleich A I ) notwendig ist; diese Antinomie ist unabdingbar, denn ohne Widerspruch gibt es keine Bewegung der Begriffe, keine Bewegung der Zeichen, die Beziehung zwischen Begriff und Zeichen wird automatisiert, das Geschehen kommt zum Stillstand, das Realitätsbewußtsein stirbt ab. [10]
Diese Aussagen sind vor dem Hintergrund zu lesen, dass Jakobson den Fortbestand der literarischen Revolution sichern wollte. Denn die kommunistischen Revolutionäre in Leningrad und Moskau waren erpicht darauf, dass diese Art der literarischen Aktivität ausstarb, – so dass seine Logik mich an die absurden Theaterstücke und rationalistischen Aufsätze von Václav Havel in Prag erinnern, dreißig oder vierzig Jahre später, und auch an einen Aufsatz, den Milan Kundera 1979 in Paris schrieb, um Havel zu verteidigen, nachdem dieser von dem sowjetisch geführten Regime verhaftet worden war, in dem Kundera also schrieb, dass Havels Bestreben, in seinem Werk wie auch in seinem Leben, schlicht das gewesen sei, Wörter dazu zu bringen, das zu bedeuten, was sie audrückten – ja, trotz dieser schwierigen politischen Hintergründe, denke ich nicht, dass die potentielle revolutionäre Energie, die in Jakobsons Vorschlag enthalten ist, durch die politischen Umstände gemindert werden kann. Jakobson argumentiert, dass es gerade der Abstand zwischen einem Zeichen und der Realität ist, der es zu einem so effektiven Werkzeug ihrer Beschreibung macht. Und das ist ein geradezu explosiver Gedanke.
Übungen
1
Aber ich brauche noch einen Helden. Und ich habe einen Helden: Sein Name ist Raymond Queneau.
2
Raymond Queneaus
Exercices de style
(
Stilübungen
) wurden 1947 in Paris veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt kannte man Queneau als Schriftsteller. Bald sollte er seinen berühmtesten Roman schreiben:
Zazie dans le métro
(
Zazie in der Metro
). Aber gleichzeitig war Queneau auch Dichter, Mathematiker und Lektor bei Gallimard. Und später wurde er zusammen mit Georges Perec, Italo Calvino und weiteren Schriftstellern Mitglied der literarischen Gruppe OuLiPo, der Ouvroir de Littérature Potentielle. Aber 1947 wurde Queneau mit einem Schlag wegen dieses Buches berühmt: seinen
Stilübungen
. Der unvorbereitete Leser könnte es zunächst für eine Sammlung winziger Geschichten halten. Die erste Geschichte, »Angaben«, hört sich so an:
Im Autobus der Linie S, zur Hauptverkehrszeit. Ein Kerl von etwa sechsundzwanzig Jahren, weicher Hut mit Kordel anstelle des Bandes, zu langer Hals, als hätte man daran gezogen. Leute steigen aus. Der in Frage stehende Kerl ist über seinen Nachbarn erbost. Er wirft ihm vor, ihn jedes Mal, wenn jemand vorbeikommt, anzurempeln. Weinerlicher Ton, der bösartig klingen soll. Als er einen leeren Platz sieht, stürzt er sich drauf.
Zwei Stunden später sehe ich ihn an der Cour de Rome, vor Gare Saint-Lazare, wieder. Er ist mit einem Kameraden zusammen, der zu ihm sagt: »Du solltest dir noch einen Knopf an deinen Überzieher nähen lassen.« Er zeigt
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