Der multiple Roman (German Edition)
versuchte, Sätze so abstrakt wie möglich zu beschreiben. Ein Satz, schrieb er, bestehe aus bestimmten Kernen, die ein logisches Netzwerk bilden. Dann füllten andere Einheiten diese Struktur aus, »nach einem im Prinzip endlosen Wucherungsmodus«. Und so, schrieb Barthes, »gilt dies auch für den Satz, der aus einfachen Ur-Teilen besteht und durch Duplikationen, Füllsel, Umhüllungen usw. endlos kompliziert wird: die Erzählung ist, wie der Satz, endlos katalysierbar.« Und übrigens, fügte er hinzu, existiere bereits das Diagramm eines Satzes –, ein Gedicht,
Un coup de dés
, das gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts von Stéphane Mallarmé geschrieben worden war: ein Wunder der Typographie – dessen Layout die minutiösen Satzstrukturen von Mallarmés Grammatik imitierte. Wer könne dies bezweifeln, fragte Roland Barthes, im vorrevolutionären Paris? Es sei ein Gedicht, »das mit seinen ›Knoten‹ und ›Bäuchen‹, seinen ›Knoten-Wörtern‹ und ›Klöppel-Wörtern‹ als Emblem jeder Erzählung und jeder Sprache gelten kann«. [3]
3
Natürlich schafft die Tatsache, dass ein Satz ein unendliches Netzwerk ist, erhebliche Probleme für alle, die ihre Zeit damit verbringen, sich Sätze auszudenken: Sie erschwert sogar die Bildung von nur zweien. So traf beispielsweise 1918 ein Mann namens Frank Budgen in der Bahnhofstraße in Zürich eines Abends seinen Freund, einen Mann namens James Joyce. Joyce trug einen braunen Überzieher, den er bis zum Kinn zugeknöpft hatte. Zusammen gingen sie zum Café Astoria, schreibt Budgen:
Ich erkundigte mich nach dem
Ulysses
. Kam er voran?
»Ich habe den ganzen Tag über hart daran gearbeitet«, sagte Joyce.
»Heißt das, daß Sie viel geschrieben haben?«, fragte ich.
»Zwei Sätze«, sagte Joyce.
Ich blickte zur Seite, aber Joyce lächelte mich an. Ich dachte an Flaubert.
»Sie waren auf der Suche nach dem
mot juste
?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Joyce. »Die Wörter habe ich bereits. Ich suche nach der vollkommenen Anordnung der Wörter im Satz. Es gibt eine in jeder Beziehung angemessene Anordnung. Ich glaube, ich habe sie gefunden.« [2] [4]
4
Ein Jahr nach seiner ersten abstrakten Beschreibung des Satzes arbeitete Barthes wieder an einem Aufsatz über Sätze, in dem Gustave Flaubert als leidender Held vorkam. Barthes stellte sich die Qualen vor, die ein Schriftsteller vor der leeren Seite erdulden mochte. Schließlich gab es aus seiner Sicht zwei primäre Ansatzpunkte für die Konstruktion eines Romans: die Anordnung der Teile und die Anordnung eines jeden Satzes. Flaubert stellte einen speziellen Fall des Satzproblems dar. Denn er hatte einen Korrekturfimmel. Und daher, schrieb Barthes, musste Flaubert der Tatsache ins Auge sehen, dass die Veränderung eines Satzes auf drei verschiedene Arten geschehen konnte: Man konnte ein Wort austauschen, man konnte ein Wort streichen, und man konnte ein Wort hinzufügen. Während man sich beim Austauschen grob an die semantischen Regeln zu halten hatte und das Streichen auf gewisse Weise dadurch eingeschränkt war, dass letztendlich noch einige Wörter übrigbleiben mussten, damit überhaupt ein Satz existierte, gab es natürlich keine obere Grenze für die Ausdehnung eines Satzes. Und so konnte Barthes zu seiner ersten Schlussfolgerung über Sätze kommen, nämlich, dass »der mit dem Satz konfrontierte Autor die endlose Freiheit der Sprache erlebt, die selbst in der Struktur der Sprache einen tiefen Eindruck hinterlassen hat«. [5] Dies sei eine Qual für den Schriftsteller, vermutete Barthes: Es sei
atroce
. Denn früher habe es noch Regeln gegeben, um die im Satz versteckte Freiheit einzuschränken. Diese Regeln wurden
Rhetorik
genannt. Doch mittlerweile war man von der Rhetorik, von ihren willkürlichen Vorschriften und Schemata, abgekommen. Sobald die Rhetorik keine Rolle mehr spielt, bleibt nur noch der Schriftsteller zurück, völlig frei vor dem Satz. Und diese Freiheit ist schwindelerregend. Sie ist tödlich.
5
Diese aufreibende, erschöpfende Freiheit ist der Grund dafür, dass man bei allen Recherchen über die Produktion internationaler Romane früher oder später auf müde Schriftsteller stößt. Zum Beispiel im Rahmen dieser bekannten kleinen Geschichte über Gustave Flaubert und seinen Protegé, Guy de Maupassant: Um Maupassant die Kunst des Schreibens beizubringen, schickte Flaubert ihn in die Straßen von Paris, mit dem Auftrag, einen Krämer oder einen Portier oder einen Kutschenstand
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