Der multiple Roman (German Edition)
komplexe Komposition. Selbst der kürzeste Roman kann eine sehr lange Leseerfahrung sein. Und die Söge und Querverbindungen, welche durch die einmaligen Kompositionsstrukturen von Romanen entstehen, spielen Katz und Maus mit unseren herkömmlichen Vorstellungen von Zeit oder Identität oder Wahrnehmung oder Politik oder Geschichte oder Kausalität – ja, mit wirklich allem. So dämmerte mir langsam, dass mein Projekt eine verrücktere, umfassendere Philosophie benötigte: eine Auseinandersetzung mit der notwendig wackeligen Bauart auch noch der perfektesten Romankomposition.
Selbst die einzigartigste Komposition, entdeckte ich nun, ist selber immer ein Multiple. Ein Roman muss über gigantische Zeiträume hinweg entwickelt werden. Das stimmt sowohl in Bezug auf den Schreib- als auch auf den Leseprozess. Der Leser! Er war der endgültige Grund, warum ich eine neue Theorie wollte. In diesem Projekt über Schriftsteller und ihre Romane waren die Leser bisher nur Nebenfiguren gewesen. Demgegenüber war das Projekt utopisch. Es sollte eine Plattform für Kollektive sein, für globale Läden und Kioske; eine Fabrik für Romane als Inbegriff der Internationalität. Und so wurde mir klar, dass mein Projekt noch ein letztes Element miteinbeziehen musste: den abwesenden, multiplen Leser. [1]
So begab ich mich traurig zurück in mein Studio. Und rief einen neuen und vielleicht überraschenden Helden zur Hilfe, Roland Barthes: diesen Kritiker, der Romane so wenig schätzte. Denn am Ende seines Lebens, das er größtenteils dazu genutzt hatte, voll Verachtung die Tricks und Unaufrichtigkeiten der Romanform aufzudecken, änderte Barthes letztlich seine Einstellung. In Paris, der Stadt der reinen Skepsis, ging ihm auf, dass er einen Roman schreiben wollte. Er war bekehrt worden! Denn ein Roman, so begann er nun zu argumentieren, stellte eine auf radikale Weise unverfälschte Form von Literatur dar. Nur ein Roman konnte das hervorbringen, was er ohne Schamgefühl
Augenblick der Wahrheit
nannte. Und das lässt sich nur nachvollziehen, wenn man zugesteht, dass ein Roman »vermittels einer Art ›Zerrüttelung‹ rührt, lebt und keimt, die nur bestimmte Momente, die dann genau genommen die Gipfel sind, stehenläßt …« [1] Seine Form war überhaupt nicht ordentlich. Sie war viel spröder, als sie aussah. Und dies ist letztendlich der Grund dafür, dass ein Roman immer international sein kann. Die tiefgehendste Form eines Romans spiegelt sich nicht nur in der feingliedrigen Oberfläche seiner Sätze wieder, sondern vor allem auch an jenen Stellen, wo diese Oberfläche kollabiert und etwas zurücklässt, das man nur
Augenblick der Wahrheit
nennen kann.
Beflügelt durch diese neugefundene Hoffnung verfolgte ich mein Projekt in seiner finalen Form erst durch Abfolgen von Hochgeschwindigkeitsanalysen – eine philosophische Grundlagenarbeit der skurrilsten Art – und dann durch Fallstudien, Variationen, Hommagen. Und so gelang es mir, meinen utopischen Plan zu verfolgen: den internationalen und zukünftigen Roman.
Jetzt bin ich definitiv fertig. Das Zeitalter der Jugend ist für mich eindeutig vorbei. Jetzt bin ich bereit, jedes Emporium und jeden Laden auf jedem Kontinent oder Planeten aufzubauen, wo sie willkommen sind.
Et voilà, amigos: avanti.
1 Erste Abfolge (Sätze)
Geschichten
1
In einer Stadt mit dem temporären Namen Leningrad schrieb ein Autor, der den Namen Daniil Charms angenommen hatte, eine Geschichte. Der erste Satz lautet wie folgt: »Eines Tages ging ein Mann zur Arbeit, und unterwegs begegnete er einem anderen Mann, der ein polnisches Weißbrot gekauft hatte und auf dem Heimweg war.« Der nächste Satz ging so: »Das ist eigentlich alles.« [2] Und tja, er nimmt sich selbst beim Wort. Hierbei handelt es sich tatsächlich um eine vollständige Geschichte von Daniil Charms, der er den schlichten Titel »Die Begegnung« gab. Das ist tatsächlich eine zweisätzige Geschichte, oder einsätzig, wenn man den zweiten Satz nicht dazuzählt – diesen zusätzlichen Moment, wenn Charms vorschnell aus seinem Versteck kommt, wie Bugs Bunny, und verkündet, dass seine Geschichte schon vorbei ist.
Aber bei dieser Erkenntnis, dass eine Geschichte und ein Satz deckungsgleich sein können, sollte ich wohl bereits innehalten.
2
In Paris, einer der Hauptstädte dieses Projekts, verfasste der Avantgardist und Essayist Roland Barthes 1966 , vor den Pariser Evenements, eine Beschreibung dessen, was einen Satz ausmacht. Er
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