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Der multiple Roman (German Edition)

Der multiple Roman (German Edition)

Titel: Der multiple Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Thirlwell
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so zu beschreiben, »dass ich sie mit keinem anderen Krämer, keinem anderen Portier verwechsle; machen Sie mir durch ein einziges Wort deutlich, wodurch sich ein Droschkenpferd von fünfzig anderen, die ihm folgen und voraufgehen, unterscheidet.« [6]
    Es ist eine traurige Geschichte, eine etwas verrückte Geschichte vielleicht, und sie hat ihr eigenes, von der Geschichte improvisiertes Multiple.
    Bevor James Joyce in Zürich lebte, verbrachte er einige Zeit in Triest. Dort verdiente er sich sein Geld damit, Englisch zu unterrichten. Die englische Sprache unterrichtete er genau so, wie Flaubert die Kunst des französischen Romans unterrichtete: mit Hilfe von Beschreibungen. [3] Sein berühmtester Schüler war ein Mann namens Ettore Schmitz. Wobei er nicht unter diesem Namen berühmt war; allerdings durch den, mit dem er seine Romane unterschrieb: Italo Svevo. Weil Svevo oft geschäftlich nach England reisen musste, begann er 1906 bei James Joyce Englischunterricht zu nehmen. Und Joyce stellte auch Svevo seine berüchtigten Beschreibungsaufgaben. Diesmal sollte er seinen Lehrer selbst beschreiben. Natürlich hatte Joyces Lehrmethode das Ziel, zwei Probleme gleichzeitig zu behandeln: die Schwierigkeit, in einer Fremdsprache zu schreiben, und die, in jeder Sprache so zu schreiben, dass die Wirklichkeit für den Leser erhalten bleibt. Anders gesagt, seine Aufgaben waren sowohl Englischübungen – und Schmitz’ Englisch hatte diese dringend nötig – als auch Übungen im Romanschreiben, in der Kunst des Erschaffens von Charakteren in Prosa:
    When I see him walking on the streets I always think that he is enjoying leisure a full leisure. Nobody is awaiting him and he does not want to reach an aim or to meet anybody. No! He walks in order to be left to himself. He does also not walk for health. He walks because he is not stopped by anything. I imagine that if he would find his way barred by a high and big wall he would not be shocked at the least. He would change direction and if the new direction would also prove not to be clear he would change it again and walk on his hands shaken only by the natural movement of the whole body, his legs working without any effort to lengthen or to fasten his steps. No! [7] [4]
    Und da haben wir Joyce: verewigt, in Triest. Denn so ist er jetzt immer noch real – als inspirierte Abfolge ungrammatischer linguistischer Zeichen.

Wörter
    1
    Ich bin kein Semiotiker, ich bin Schriftsteller. Aber ich finde, dass dieses italienische Englisch von Italo Svevo eine kurze philosophische Exkursion verdient. Es ist allseits bekannt, dass der schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure die bekannteste Definition des Wortes als Zeichen prägte. Ein Wort, so argumentierte er, habe eine besondere Struktur: die Kombination eines Signifikanten – einer phonetischen Bezeichnung – mit einem Signifikat – einer Bedeutung. Und diese Definition erlaubte ihm, seinen berühmten Schluss zu formulieren, dass die Beziehung zwischen diesen zwei Aspekten eines Zeichens beliebig ist: Es gibt keinen inwendigen Grund, warum ein spezieller Signifikant mit einem bestimmten Signifikat vernetzt sein sollte. Aber dies erklärt immer noch nicht, warum einige Zeichen akkurater sind als andere. Es erklärt letztendlich nicht, warum einige Sätze präziser sind als andere.
    Schließlich ist ein Zeichen natürlich nicht identisch mit der bezeichneten Wirklichkeit: Ein Zeichen ist etwas Zusätzliches. Etwas Zusätzliches zu sein, macht sogar sein Wesen aus. Und während dies im Paris der späten 1970 er Jahre Roland Barthes davon überzeugte, dass es nie eine wirkliche Übereinstimmung zwischen Sprache und Wirklichkeit geben würde, weil »man eine mehrdimensionale Ordnung (das Wirkliche) nicht mit einer eindimensionalen Ordnung (der Rede) zur Deckung bringen kann«, bin ich mir da weniger sicher. [8] Oder vielmehr, bin ich nicht sicher, dass das Problem an dieser Stelle aufhört. Es kommt mir vor wie eine zu einfache Ausflucht.
    2
    In seinem Buch über die Fotografie, das er 1980 veröffentlichte und das sein letztes werden sollte, schweift Barthes einen Moment lang ab und vergleicht die Fotografie mit der Sprache. Eine Fotografie, schreibt er, sei immer eine Art Beweis dafür, dass etwas einmal existiert habe: Eine Fotografie kann nicht existieren, ohne dass vorher etwas Wirkliches fotografiert worden war. Während etwas in einem Satz existieren konnte, ohne im wirklichen Leben zu existieren. Und dies war

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