Der Musikversteher
sie könnten wir uns gar nicht verständlich machen. Wichtig aber ist der produktive Umgang mit solchen Klischees. Obelix hat sein Klischee in einer Stresssituation sozusagen »blind« reproduziert – und der Asterix-Autor René Goscinny erzielte mit seiner produktiven Verwendung dieses Klischees eine saukomische Wirkung. Ebenso saukomisch wie makaber dann das Klischee »Hurra, wir dürfen in den Zirkus!« – zu den Löwen.
Schon in der Antike, besonders aber seit der niederländischen und französischen Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts gibt es ein wunderschönes Bild für die Weltverlorenheit des Musizierenden, der ganz eins wird mit seinem Instrument und seiner Musik. Frei und spontan improvisiert er, verleiht er nur sich selbst und seinen Gefühlen Ausdruck: der einsame Hirt. Er sitzt allein in Abendsonne und in weiter Landschaft auf einer Anhöhe über seiner Herde, und er entlockt seinem Instrument, z. B. der Fujara, Töne, die – wie einst bei Orpheus – auch seine Tiere, vielleicht sogar die Pflanzen rühren und bewegen.
So hätten wir’s gern, wir unverbesserlichen Romantiker. Das Bild ist ja wirklich bezaubernd schön, aber: schon bei flüchtiger Überprüfung verfliegt die Romantik. Das Instrument des Hirten, seine Existenz als Hirt, sein Alleinsein – all das ist Resultat gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Er hat einen Job, von dem er lebt. Das Tonsystem, dessen er sich bedient, die Modi, die melodischen Formeln, die Rhythmen, die spezifischen Arten, wie Empfindungen in Klänge umgesetzt werden – all das hat er gelernt. Das ist Teil einer gesellschaftlich begründeten Musiksprache, also eines kommunikativen Codes, an dem der Hirte Anteil hat.
Dass er dennoch rührende und schöne Melodien spielen und auch spontan improvisieren kann, das hoffe ich doch dringend für uns und für ihn. Und vielleicht hat er ja die Fujara sogar selbst ganz individuell gebaut, nach den Regeln, die er in seinerGemeinschaft gelernt hat. Erst wenn wir das alles verstehen, können wir seine Leistungen wirklich würdigen. Aber: alle rationale Nüchternheit kann nicht verhindern, dass auch ich das Bild der Weltverlorenheit schön finde.
Oft schrumpft das, was einmal als spontan-freie, formsprengende Avantgarde angesehen wurde, bei näherer Betrachtung auf ein bescheidenes Format zusammen. Ich erinnere an den frühen Punk der siebziger (z. B. die Sex Pistols) und achtziger Jahre. Besonders den progressiven Pädagogen wurden da ja immer die Augen feucht: diese Freiheit, ja Anarchie, dieses ungebundene »Aus’m Bauch«, gegen alle Zwänge! Was die Attitüde der Gruppen betrifft, ihre rotzig-trotzige Anti-Haltung, auch viele ihrer Inhalte, stimmt das ja auch oft. Was aber die Songs konkret angeht, ist da von Freiheit keine Spur. Da werden – in der Regel – nur simpelste Klischees reproduziert und in vollkommen konventionelle Zwangsjacken gesteckt. Das betrifft nicht nur die berühmten zwei Akkorde (wo ist der dritte Akkord? DA, DA, DA ). Das betrifft, für mich viel enervierender, die Rhythmik und die Metrik: immer nur geschrammelter gerader 4/4-Takt, und immer nur »gerade« Taktgruppen: der Triumph der Zweierpotenzen, zwei, vier, acht, sechzehn Takte (vgl. das Kapitel »Is It Rhythm«).
Wir kennen das schöne Bild vom »Wolf im Schafspelz«, also vom Unhold, der sich äußerlich als harmlos tarnt. Bei vielen Punkern würde ich das gern umdrehen: »Schafe im Wolfspelz«: Die wilde Attitüde tarnt den harmlosen Kern. (Übrigens habe ich diese Assoziation oft auch, wenn ich Mick Jagger höre und sehe: ein »Schaf im Wolfspelz«.)
Aber es gibt ja auch viele Ausnahmen, so im Post-Punk des Seattle-Grunge von Kurt Cobain und der Gruppe Nirvana. Und dann gibt es auch Allround-Könner wie Beck, der in seinem allerersten Welterfolg, dem LOSER, mit einem Akkord auskommt, ihn aber so inszeniert, dass eine unglaubliche Vielfalt entsteht. Und wenn Klischees kommen, dann werden sie auch inszeniert, und zwar ironisch.
Nicht nur in der Musik gilt: Um frei sein zu können, brauche ich Auswahlmöglichkeiten. Ich benötige Alternativen, um nicht fremdbestimmt zu sein. Auch wenn ich mir selber Grenzen setzen will, muss ich mir diese Grenzen selbstbestimmt setzen dürfen. Igor Strawinsky schrieb in seiner Musikalischen Poetik, seinen Harvard-Vorlesungen: »Meine Freiheit besteht darin, mich in jenem engen Rahmen zu bewegen, den ich mir selbst für jedes meiner Vorhaben gezogen habe.« 10
Der naive Glaube an den kreativen
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