Der Musikversteher
wenn deutlich gemacht wird, dass es Metaphern sind, ist auch wissenschaftstheoretisch nichts an ihnen auszusetzen. Also: aus dem »Haken« entwickelt sich die »Hookline« (manchmal auch »Headline« genannt – das wäre aber nur dann sinnvoll, wenn diese »Schlagzeile« wirklich nur einmal zuBeginn vorkäme). Sie fasst in der Regel die Essenz eines Songs knapp und präzise zusammen, musikalisch wie textlich. Auch eine ganze Hookline, sogar ein ganzer Refrain bzw. Chorus kann angekrochen kommen und uns als Ohrwurm heimsuchen.
Erste Voraussetzung für einen »Ohrwurm« ist in der Regel eine allgemein vertraute musikalische Formel, das heißt eine Zusammenstellung von Tönen, die an Hörgewohnheiten einer großen Gruppe von Menschen anknüpft. Diese Gruppe ist im Zeitalter globalisierter Massenkommunikation besonders im Bereich Rock/Pop etc. ins Unermessliche gewachsen, aber sie verfügt dennoch über eine gemeinsame musikalische Sozialisation, also einen Erfahrungsschatz von gespeichertem musikalischem Wissen, der den Vokabeln und den Redewendungen beim Spracherwerb entspricht.
Der Tonbestand solcher »Ohrwurm-Formeln« ergibt sich, rein statistisch, am häufigsten aus einer Fünftonordnung, der halbtonlosen Pentatonik, die in den meisten Musikkulturen der Erde verbreitet ist (vgl. die »Kleine Intervall-Lehre I«, S. 50). Wir finden diese Struktur als Grundlage authentischer Volksmusik (z. B. in den chinesisch-japanischen, auch in afrikanischen Kulturen, in der irischen und der schottischen Folklore), im Kinderlied, im Spiritual, in Blues und Rhythm’n’Blues, Rock, Jazzstandards, bis zur Avantgarde des 20. und 21. Jahrhunderts (Claude Debussy, Maurice Ravel, Charles Ives, Igor Strawinsky, Béla Bartók, György Ligeti).
Auch Teile, Segmente der Pentatonik sind beliebt und einprägsam: besonders Trichorde aus kleiner Terz plus Ganzton wie e-g-a (z. B. g-g-a-a/g-e = BACKE, BACKE KUCHEN; g-a-g/e = STILLE NACHT; e-g/a-a = UND DER HAIFISCH, DER HAT ZÄHNE …; h-d’-h/e’-h-d’-e’/h = der Beginn von A DAY IN THE LIFE der Beatles; es-c/f-c = DAS LIED DER WOLGASCHLEPPER und des-b-es-b, die »Urformel« aus Igor Strawinskys LE SACRE DU PRINTEMPS; usw.). Diese drei Trichord-Intervalle können auch »permutiert« werden, also z. B. Ganzton plus kleine Terz wie c-d-f (vgl. Gustav Mahler, ICH BIN DERWELT ABHANDEN GEKOMMEN), oder d-e-g (The Beatles, SHE LOVES YOU), oder a-h/d 1 (AUF DER REEPERBAHN NACHTS UM HALB EINS), g-g-e-d (Dvořák, Symphonie IX AUS DER NEUEN WELT) usw.
Die Notenbeispiele finden Sie gleich im Anschluss. Auch für diejenigen, die nicht mit Noten vetraut sind, ist es auf charakteristische Weise möglich, das rhythmische Nacheinander von Sprache und Musik und das Auf und Ab der melodischen Bewegungen nachzuvollziehen.
Aus der Pentatonik und aus solchen Segmenten der Pentatonik entstehen also musikalische Motive, die gerade wegen ihrer Kürze die Ohrwurmwirkung erzielen können. Ein solchesMotiv (wörtlich: wie im Krimi ein »Beweggrund«, etwas, das einen Prozess in Gang bringt) wird in der Regel zu einer Melodie entfaltet. Beliebtes Mittel dabei ist: dieses Motiv zunächst einmal wiederholen oder variieren – dann eine Fortsetzung oder einen Kontrast bringen – aus Symmetrieerwägungen und zur Abrundung wieder das Motiv aufgreifen – dann diese Gesamtmelodie mit neuem Text wiederholen – schon ist eine Strophe oder ein Refrain fertig.
Ohne charakteristische Rhythmik aber wird eine Tonhöhenformel in der Regel nicht zum »Haken«, der die Fähigkeit hat, sich festzusetzen. Erst der prägnante Rhythmus macht aus der Möglichkeit des Ohrwurms die hartnäckige Realität, über die das Lied OHRWURM von den Wise Guys (2004) Auskunft gibt: »Ich bin zwar nicht grad virtuos, doch du wirst mich nie mehr los!«
Oft sind es gar nicht die gesungenen »Haken«, die sich so festsetzen, sondern die instrumentalen »Riffs«, also die hartnäckig wiederholten kurzen Tonfolgen mit den eingängigen Rhythmen. Bevorzugte »Tatwaffe« war und ist die E-Gitarre, die auch mit der entsprechenden großen Geste (und gern mit verzerrtem Sound) inszeniert wird. Unvergessen: SATISFACTION von den Stones und SMOKE ON THE WATER von Deep Purple (vgl. die Analysen S. 290). Die gesungenen Melodien in Strophen und Refrains? Na ja. Aber die Riffs! Wer greift da nicht zur (imaginären Luft-)Gitarre und lässt die Welt erbeben!
Weil die Komponisten um solche »kommunikativen Codes« von diesen Normen und den damit
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