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Der Musikversteher

Der Musikversteher

Titel: Der Musikversteher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartmut Fladt
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Musikerlebens durch Wissen und Erkenntnis hindurchgegangen ist, dann stellt sich das ein, was ich mit dem Philosophen Hegel als eine »zweite Unmittelbarkeit« bezeichnen möchte. Das heißt: Wissen behindert nicht meine Gefühle, sondern macht sie, ganz im Gegenteil, reicher und befreit meine Gefühle von Vorurteilen. Aber umgekehrt wird auch jedes Wissen durch Fühlen und durch Veränderung von Gefühlen beeinflusst. Nach der Lektüre von Charles Dickens lese ich Statistiken über Kinderausbeutung und Kindersterblichkeit im 19. Jahrhundert ganz anders.
    Als kleine Coda dieses Kapitels soll über die Macht der Erinnerungen in der Musik nachgedacht werden. Wir kennen noch heute Schweizer Söldnerheere – mittlerweile als eher pittoreskes Relikt, als »Schweizergarde«, Schutztruppe des Papstes. Sie waren aber über Jahrhunderte als zuverlässige, loyale Kämpfereuropaweit sehr begehrt; als hochbezahlte Kriegsspezialisten hatten sie der bitteren Armut ihrer Heimat den Rücken gekehrt. Bei diesen Truppen nun gab es ein musikalisches Tabu: Es war ihnen bei Todesstrafe verboten, Melodien aus der Heimat zu singen, zu spielen, zu pfeifen. Eine solche »Cantilena Helvetica«, meistens ein bäuerliches Lied, das zum Viehtrieb gesungen wurde, ein »Kühe-Reyen«, weckte bei den Soldaten Erinnerungen an die Heimat, an die Kindheit. So mächtig wurde nun durch die Wirkung der Musik dieses Heimweh, diese Nostalgia, dass die Söldner oft desertierten oder sogar an dieser Verzweiflung sterben konnten. Jean-Jacques Rousseau beschreibt im Artikel »Musique« in seinem europaweit bekannten Musiklexikon Dictionnaire de musique, Paris 1768, wie Erinnerungen, die durch Musik aktiviert werden, bei jedem Menschen individuell anders sind; aber sowohl die Musik als auch die singenden/zuhörenden Menschen gehören übergeordneten kulturellen Zusammenhängen an. Diese kulturellen Gemeinsamkeiten nun bewirken eine überindividuelle Verstehbarkeit von Erfahrenem, von Gewusstem, von tiefen (d. h. auch in der »Tiefe« verborgenen) Gefühlen: Es entsteht eine »objektivierbare Subjektivität«, und die wirkt besonders heftig in der Musik und in uns zugleich. Für die Ausprägungen dieser in uns allen gespeicherten emotionalen kulturellen Identitäten wurde in der französischen Soziologie der schöne Begriff mémoire collective geprägt – unsere Aufgabe muss es sein, ihn kritisch und konkret mit Leben zu füllen.

3. Von Musikern, Musik-Erschaffenden, Komponierenden
Wissen, Fühlen und der kreative Schrei der Unmittelbarkeit
    Das Folgende gilt nicht nur für das Hören von Musik, sondern auch das schöpferisch produktive Umgehen mit ihr. Auf der Ebene der Produktion von Musik entsprechen die vermeintlichen Pole »Verstehen« und »Fühlen« weitgehend den populären Gegensätzen von »Komposition« und »Improvisation«. Wie ist das produktive Spannungsverhältnis von Wissen und Fühlen bei Musikern ausgeprägt? Dazu jetzt ein kleiner, aber schöner Umweg – denn wir wissen: Der Weg ist das Ziel.
    In einem der guten alten Asterix -Hefte aus den frühen siebziger Jahren ziehen Asterix und Obelix mit einem Kupferkessel, den sie zu füllen haben, durch Gallien. Obelix ist für Zwiebelsuppe. 9 Asterix aber benötigt Sesterzen, schnödes Geld, wegen einer Ehrenschuld. Sie kommen an eines der modernen römischen Amphitheater und heuern bei einer Avantgarde-Schauspieltruppe an. Da ist Spontaneität angesagt, der Schrei der Unmittelbarkeit; auf ein Zeichen soll Obelix an die Rampe tänzeln und die freie Botschaft verkünden, er soll sagen, was ihm gerade durch den Kopf geht. Obelix verängstigt: »Aber es kommt vor, dass da gerade nichts durchgeht!« Und im großen Moment, grün im Gesicht, panisch schwitzend vor den Tausenden von Zuschauern, reproduziert er seinen fest im Hirn verankerten Klischee-Satz, der aber hier – spontan – wie die Faust aufs Auge passt: Die spinnen, die Römer . Was der Schauspieltruppe einen einmaligen und endgültig letzten Auftritt im Zirkus in Rom bei den Löwen verschafft.
    Was will uns der Dichter damit sagen? Spontaneität aus dem Nichts ist nichts als Illusion – in der Regel. Eine creatio ex nihilo wird normalerweise nur dem lieben Gott zugetraut. Eine kreative Unmittelbarkeit braucht Anregungen, sie braucht Grenzen,braucht sogar produktiven Widerspruch. Und sie braucht einen großen Erfahrungsschatz an Vokabeln und Formeln, ja sogar an den berüchtigten Klischees, an denen ja nichts Schlimmes ist – ohne

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