Der Musikversteher
verbundenen Hörerwartungen wissen, können sie diese entweder erfüllen oder bedeutungsvoll bzw. spielerisch verändern. In den meisten Stücken auch der Rock- und Popkulturen ist der kreative Umgang mit vorgegebenen Normen ein Zeichen von schöpferischer Individualität.
Jeder »Ohrwurm« zeichnet sich durch einen überraschenden Umgang mit dem Erwartbaren aus. Das reine Erfüllen von Normativität erzeugt aber in der Regel – gähnende Langeweile.
Wenn sie entsprechend inszeniert werden, können aber auch extrem komplexe Tonfolgen zu Ohrwürmern werden; weniger in dem Sinne, dass sie unmittelbar nachsingbar wären, aber doch so, dass sie fest ins musikalische Gedächtnis eingebrannt sind. So (im deutschsprachigen Raum) z. B. der »TATORT«-TRAILER von Klaus Doldinger (1970): die Intro entfaltet aus dem sehr einfachen Intervall der aufsteigenden Quarte, tausendfach vertraut, besonders aus Volksliedern (IM FRÜHTAU …), Märschen. Hier ist die Quarte verbunden mit einem »heulenden« glissando, einem Gleitton. Dieses Quartintervall »verrutscht«, wird transponiert:
g – c 1 , b – es 1 , a – d 1 , f 1 – g 1 – b 1 etc.
Es entsteht so ein Komplex aus vielen unterschiedlichen Tonhöhen in c-Dorisch; wenn dann der feste 4/4-Takt-Rhythmus einsetzt, benutzt Doldinger sowohl für das begleitende ostinate (also wiederholend beibehaltene) Pattern als auch für die Hauptmelodie eine spezifische Ordnung der Pentatonik, die d-Moll-Pentatonik aus den Tönen d – f – g – a – c – d 1 .
Klangbeispiel
– http://www.youtube.com/watch?v=7M01Y1PwWUI
Ein Ohrwurm »funktioniert« auch rein musikalisch, ohne griffigen Text, als rhythmisierte Tonfolge; eine Hookline aber droht einen wesentlichen Teil ihrer Unverwechselbarkeit einzubüßen. »Text« muss dabei nicht insgesamt geordnet oder gar argumentativ sein, z. B. als Zeile mit festem Versmaß oder gereimte Doppelzeile. Gerade durch »wilde« Interjektionen, teilweise sogar durch (für sich genommen) sinnlose Laute – kombiniert mit zumeist lyrisch definierter Ordnung des Textes – entsteht eine Individualität, die sich einbrennt.
Gut zu demonstrieren an zahlreichen Songs der Beatles. »She loves you« (1963) ruft Achselzucken hervor: Na und? »She loves you yeah, yeah, yeah » aber ist unverwechselbar. Eine eigentlich banale Aussage und eine banale Interjektion (bisweilen auch »yeh« geschrieben) werden von den Beatles gekoppelt und damit unverwechselbar gemacht; mit einer griffigen melodischrhythmischenFormel versehen, besetzen sie so bis zum heutigen Tage das Musikgedächtnis von (wahrscheinlich) Milliarden von Menschen, das entweder assoziativ-unbewusst ausgelöst werden kann – wodurch auch immer bedingt – oder als bewusste Gedächtnisleisung aktiviert:
Einfaches aufsteigendes pentatonisches Trichord (Ganzton + kleine Terz, d-e-g), rascher Auftakt; absteigend ausgefüllte Mollterz (g-fis-e), gleichmäßige verdoppelte Notenwerte; in einer Kurve dargelegt: »Aufreißen« mit raschem kurzem Anstieg, Sich-Senken vom wiederholten erreichten letzten Ton an mit insgesamt verdreifachter Dauer, als sei »Yeah« die eigentliche Aussage (vgl. auch das Notenbeispiel 1 h auf S. 41).
Klangbeispiel
– http://www.youtube.com/watch?v=3q7KXWzA2fQ
– http://www.youtube.com/watch?v=BOuu88OwdK8
Das ist sicherlich nicht bewusst »gemacht«, aber ein »Einfall« wie dieser speist sich aus gespeichertem musiksprachlichen und »handwerklichem« Potential und Kreativität gleichermaßen. Noch einmal die Beatles (1965): » Baby, you can drive my car, and may be I’ll love you« – wunderbar, aber erst im zweiten Chorus mit angehängtem »Beep beep mm beep beep, yeah!« unverwechselbar, genial. Das ist sicherlich auch geprägt durch den Scat-Gesang im Jazz mit seinen – scheinbar – sinnlosen Silben.
– http://www.youtube.com/watch?v=M7qNlocNIf8
Im kleineren Rahmen finden sich solche Beispiele auch im deutschen Banal-Schlager (gesungen von Bata Illic, 1972, aber noch heute präsent): MICHAELA – wieder achselzuckendes »na und?« Bestimmt ein nettes Mädchen; völlig unspezifischer Name. Aber »Micha-ée-láa – a-há« – das prägt sich ein, das wird(auch wenn der ganze Schlager noch so dumm oder peinlich sein sollte) zum »Haken«, den man manchmal über Jahrzehnte nicht los wird. Ahá. Der Komponist ist übrigens einer der weitaus erfolgreichsten u. a. im Bereich deutschsprachiger Schlager und volkstümlicher Musik, Jean
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