Der Musikversteher
erzählt wird hier also eine sehr alte Geschichte: die des Sängers/Songwriters aus der griechischen Antike, Orpheus. Seinen Gesang begleitete er virtuos auf der Goldenen Lyra, der bekannten alten Leier (eine entfernte antike Vorläuferin eines Gegenwarts-Mythos, der E-Gitarre). Er wusste alles Wundersame der Musik so hervorzubringen, dass die heutigen Verantwortlichen der Medienkonzerne immer noch feuchte Augen bekommen.
Orpheus bezauberte, er betörte mit seinen Gesängen nicht nur die Menschen; nein, auch Tiere, Pflanzen, gar Steine wurden ergriffen, und die Felsen weinten. Auch heute kann ja der Gesang so mancher Popstars Steine erweichen. Sogar die Götter konnten sich der ergreifenden, bezwingenden Macht seiner Töne nicht entziehen – vorwiegend Götter der Unterwelt (von ihnen wird später noch genauer zu berichten sein). Ein solcher Draht zur Unterwelt wurde vorbildlich für Orpheus-Nachfolger bis in die Gegenwart: Frank »The Voice« Sinatra zum Beispiel betörte die Unterweltgötter der Mafia, nicht nur in Las Vegas; der durchschnittliche Gangsta-Rapper der Gegenwart widmet seinen hymnischen Wortdurchfall den Unterweltgöttern der Prostitutions- und Drogenkartelle.
Orpheus war der Sohn eines Gottes, Apollon – das behauptete zumindest seine Mutter, die Muse Kalliope. Apollon, Sohn des obersten Gottes Zeus, verantwortete die Prophetie, das Bogenschießen,die Medizin und die Künste (primär die Musik). Er galt als »Apollon musagetes«, der Anführer der (neun) Musen. Diese Musen hatten sich um die Künste und die Wissenschaften zu kümmern. Damit lag es zumindest für ihren Chef nahe, sich seinerseits intensiv um die bezaubernde Kalliope zu kümmern, die schönstimmige Patronin der epischen Dichtung: Chef-Erotik und Mutterschaft im Dienste der Kalokagathia, dem Ideal der Einheit von Schönheit und Tugend.
Orpheus war somit (schon genetisch) eher für die seriösere Musik zuständig, die rührende, die erhebend-schöne, die auch im Tänzerischen elegant-edle. Aber ganz heimlich, so wird erzählt, hatte auch er dionysische Anwandlungen – wie jeder Mensch, und sei er ein Halbgott. Was heißt das?
Da gab und gibt es ja auch noch die Musik des wilden Rausches und der Zügellosigkeit: Für Sex, Drugs und Rock ’n ’Roll war Dionysos verantwortlich. Auch Dionysos ist ein Sohn des obersten Gottes Zeus, aber einer der Söhne aus seinen vielen, vielen Seitensprüngen, also ein äußerst ungeliebter Halbbruder des Apollon.
Und damit ist schon im Mythos der Doppelcharakter der Musik definiert. Dionysos und seine Satyrn, eine bockshörnige, teufelsfüßige, ewig geile, ewig besoffene, zugedröhnte Gang – auch das ist Musik. Diese Janusköpfigkeit der Musik zwischen »apollinisch« und »dionysisch« faszinierte nicht nur Friedrich Nietzsche in seinem berühmten Frühwerk Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik .
Was geschieht, wenn sich ein Apolliniker mit wilden Dionysos-Weibern einlässt? Wir werden es erfahren.
Weiter im Mythos (welchem Pfade der vielfachen Überlieferungen man auch folgt):
Sänger/Songwriter, sofern sie Apolliniker sind, verlieben sich nicht dionysisch-polymorph, sondern sie heiraten klassisch-monogam. Eurydike, die Erwählte, war eine wunderschöne Baumnymphe. Eurydike aber wurde allzu früh das Opfer eines sich schlängelnden Prinzips, das sich gern das giftige Maul zerreißt,mit unheilvollen Folgen: Tod durch zersetzendes Schlangengift. Eurydike entschwand als schwankender Schatten hinab in den Hades, in den Orkus, in das Schattenreich des Todes. Der verzweifelte Orpheus stellte nun alle Naturgesetze auf den Kopf – die Musik ist dazu auf wundersamste Weise in der Lage. Mit der bezwingenden Gewalt seines Gesangs gelang es ihm, alle Grenzen des Totenreichs zu überwinden, den Fährmann des Todesflusses Styx, Charon, und den Höllenhund Cerberus zu besänftigen. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?
Das hat, wie dieses Bibelzitat zeigt, in der christlichen Spätantike dazu geführt, Orpheus als Propheten oder gar Präfiguration Christi anzusehen (Augustinus ist da vor allem zu nennen).
Doch das Unheil ist nicht abzuwenden: Die herrschenden Götter der Unterwelt, Hades und seine Gattin Persephone, gerührt von der Love Story und der Sangeskunst des Orpheus gleichermaßen, gestatteten den Wiederaufstieg ins Leben. Als gute Menschenkenner stellten sie aber die Bedingung, dass sich der vorangehende Orpheus nicht nach der nachfolgenden Eurydike umsehen
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