Der Musikversteher
Menschenliebe. »All You Need Is Love« (The Beatles).
8. Musik soll Selbstbestimmung unterdrücken mit Gefühlsbrei. »Alle Menschen Brüder«? Die Nazis missbrauchten die »Neunte«: Menschen und Menschenrechte definieren wir . Selbstbestimmung? Liebe? Gebraucht wird dumpfes Wir-Gefühl.
9. Musik veredelt, sie reinigt die Gefühle. Ihre komplexe Vielfalt stärkt das kognitive Vermögen der Hörer signifikant.
10. Musik verschmutzt die Gefühle, sie stärkt die stumpfen, die atavistischen Gefühle. Sie vernebelt das Denken signifikant.
11. Keine andere Kunst kann existentielle Verlorenheit so tiefgründig und anrührend ausdrücken wie die Musik. Keine andere aber bietet auch so viel Trostfähigkeit wie sie.
12. Musiker sind Handlungsreisende der billigen, falschen Gefühle. Die Trostfähigkeit der Musik beruht auf kommerzialisiertem fadem Glücksversprechen.
2. Von Zuhörern, Musikrezipienten, Laien und Profis
Wer hört, versteht, liebt, hasst Musik und redet über Musik wie und warum?
Wie redet man (als musikliebender Musikhörer, als Musikwissenschaftler, als Fan, als Musikhasser …) eigentlich über Musik, über das Erleben von Musik? Wie kann man mit Worten Auskunft geben über ein flüchtiges akustisches Ereignis? Ein Text aus Worten ist da (zumindest in unserer Kultur), und er bleibt da, Sie können blättern, vergleichen, in welchem Medium auch immer. Ein Bild, eine Skulptur: Sie können näher herangehen, Details anschauen, die Skulptur im Raum erleben, drum herum gehen; wiederkommen. Aber Musik, ich rede von Live-Musik, verläuft unerbittlich in der Zeit. Die meisten ihrer Erlebnisqualitäten sind mit dem Phänomen »Zeit« verbunden – sei es über den Rhythmus, das Tempo, über die Form oder über die Dramaturgie der Gefühlsentwicklungen. Hörend verfolgen, wie sich Musik in der Zeit entfaltet: Das hat immer starke sinnliche Qualitäten.
In jedem Menschen löst gehörte Musik Gefühle aus, Träume, Assoziationen, auch unmittelbare körperliche Reaktionen. Was wir aber fühlen, das hängt grundsätzlich von zwei Voraussetzungen ab: einerseits, selbstverständlich, von der Musik selbst; sie gehört bestimmten Genres, »Sparten« an, sie hat bestimmte Charaktere, ein bestimmtes Tempo, Rhythmen (vgl. das Kapitel »Is It Rhythm?«), sie hat bestimmte Klangfarben und Lautstärken, bestimmte Affekte, und sie hat – im Falle von Vokalmusik – einen Text mit einer bestimmten Aussage.
Wenn wir es bei dieser einen Voraussetzung beließen, dann würden wir alle bei identischen Musikstücken das Gleiche empfinden. Aber jetzt kommt die zweite Voraussetzung ins Spiel: die subjektive Individualität der Musikhörer; und jeder Mensch hat so unterschiedliche kulturelle, soziale und individuelle Vorbedingungen,dass es – bei identischer Musik – zu gewaltigen Unterschieden im Erleben kommen kann. Wo und wie geschieht das? Es folgen fünf »Szenen« an Orten des typischen Musikerlebens.
Musikerleben im Konzert/im Club. Fühlen und Wissen.
Das »bürgerliche« Kammermusikkonzert ist ein Ort der konzentrierten Zuhörkultur. Die Kenner und Liebhaber lauschen intensiv, körperliche Reaktionen, gar Bewegungen sind undenkbar – »bewegt« ist allein das Innen. Ich sitze im klassizistischen Kleinen Saal des Konzerthauses Berlin am Gendarmenmarkt; es erklingt wunderbare Musik – ich bin zu Tränen gerührt. Mein Sitznachbar empfindet das anders: Er kämpft offensichtlich mit dem Wegschnarchen, oder ihm ist physisch übel, je nachdem. Spinnt der? Spinne ich? Wo sind die Kriterien?
Jetzt eine vergleichbare Szene aus einer Gegenkultur: Wie beim Kammermusikkonzert liefert der begrenzte Raum für eine begrenzte, spezialisierte Gruppe von Zuhörern den Rahmen. Viele Produkte des Techno, des Hiphop oder des Electro House werden von Jugendlichen nicht nur wegen der erzählten Inhalte, sondern durch Rhythmus, Metrum, Sound als die Musikalisierung ihres Lebensgefühls erfahren – gerade live im Club ergibt sich da ein geradezu körperliches Miterleben. Ich dagegen höre, weil ich andere Kriterien des Musikerlebens habe, fast nur ein enervierendes uffz uffz/uffz uffz//uffz uffz/uffz uffz (warum nur können manche Rock-, Punk-, Hiphop-, Pop-Musiker nicht bis drei oder gar bis fünf oder sieben zählen?), und ich denke: Oha, ist der Drumcomputer wieder vital heute. Warum soll ich mich nicht zu meinen Werturteilen bekennen?
Und so kommt es zu Abgrenzungen zwischen Musikrichtungen, zu Zuschreibungen und Vorurteilen
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