Der Nachtwandler
störte.
Zunächst hatte er es für eine Staubfluse gehalten, dann dachte er, der schwarze Fleck im Inneren des gläsernen Schirms wäre ein lebloses Insekt, das dort durch einen für das menschliche Auge unsichtbaren Spalt hineingeschlüpft war und nicht wieder herausgefunden hatte.
Es dauerte keine Minute, und er hatte eine Trittleiter aus der kleinen Abstellkammer ins Schlafzimmer geschleppt. Jetzt stellte Leon sie direkt unter die Deckenlampe. Er musste das Zimmer ein zweites Mal verlassen, um den Werkzeugkoffer aus dem Arbeitszimmer zu holen, dann stieg er mit einem Schraubenzieher bewaffnet die Stufen hinauf.
Auch aus nächster Nähe konnte er nicht erkennen, was sich im Inneren der gewölbten Muschel befand. Von seinem neuen Standpunkt aus, auf der Plateauspitze der Leiter stehend, wirkte die wie ein Auge gewölbte Glasabdeckung allerdings um ein Vielfaches größer. Und schwerer.
Behutsam, damit ihm der Schirm nicht entgegenfiel, löste er die vier dicken Schrauben, mit denen die Lampe an der Decke gehalten wurde, wobei ihm auffiel, dass die Kreuzschlitze der Schrauben an einigen Stellen deutliche Abnutzungserscheinungen aufwiesen. Eine von ihnen war etwas locker, während die letzte sich zunächst gar nicht lösen wollte. Nur mit größter Kraftanstrengung rang er ihr nach und nach die notwendigen Umdrehungen ab, und am Ende machte Leon einen folgenschweren Fehler, als er abrutschte und bei dem Versuch, nach dem fallenden Schraubenzieher zu greifen, ins Wanken geriet. Um es dem Werkzeug nicht gleichzutun, musste er den Lampenschirm loslassen, was zur Folge hatte, dass dessen gesamtes Gewicht für einen Moment nur noch an der letzten Schraube hing, das diese selbstverständlich nicht aushielt.
Der Glasschirm klappte zur Seite, brach die Schraube aus ihrer Verankerung und fiel zu Boden, wo er zerschellte.
Verdammt.
Fluchend stieg Leon von der Leiter und kniete sich auf das Parkett, um zwischen den Scherben nach dem Inhalt der Muschel zu suchen, der mitsamt dem Schirm von der Decke gefallen war.
Da er nicht wusste, wonach er suchte, hatte er keine große Hoffnung, fündig zu werden.
Allerdings musste er ohnehin die Scherben einsammeln, Stück für Stück, möglichst vorsichtig und vollständig, damit er sich später keine Splitter einzog. Zum Glück war der Schirm nur in wenige großflächige Scherben zersprungen, von denen zwei so weit unter das Bett gerutscht waren, dass Leon sich entschied, sie dort liegen zu lassen. Die anderen Einzelteile stapelte er zunächst wie Obstschalen übereinander, bevor er eine Plastiktüte und den Staubsauger holen wollte. Doch dazu kam es nicht mehr, nachdem er das kleinste Bruchstück, das die schärfsten Kanten besaß, behutsam mit spitzen Fingern angehoben hatte.
Was zum Teufel …?
Er wendete die Scherbe und betrachtete den wie eine Kontaktlinse gewölbten und an den Ecken abgefeilten Gegenstand, der mit seiner Unterseite noch immer an dem Glas hing.
Was ist das?
Leon schoss der Gedanke an Morphet durch den Kopf. Das Ding hatte eine Oberflächenstruktur und Konsistenz, die dem Panzer der Riesenkakerlake nicht unähnlich waren, wenn auch in einer anderen Färbung.
Aus der Nähe betrachtet, stammte es unzweifelhaft von einem menschlichen Wesen. Trockenes Blut verkrustete die untere Seite der Keratinplatte.
»Ein Fingernagel?«, flüsterte Leon in der Hoffnung, sich zu irren. Er war schlammfarben lackiert und nahezu vollständig aus seinem Bett extrahiert worden, und es konnte keinen Zweifel geben, zu wessen Daumen er einmal gehört hatte.
14.
V olwarth hatte das Unterbewusstsein einmal mit der Tiefsee verglichen. Je weiter nach unten man stieg, desto größer wurde die Gefahr, von seiner Last erdrückt zu werden, und auch wenn man zu schnell wieder auftauchte, konnte einem der Kopf platzen.
Leon betrachtete den abgerissenen Fingernagel und ahnte, dass er sich erst am Anfang eines langen Tauchgangs befand. Er hatte gerade einmal den Kopf unter die Wasseroberfläche gesteckt und schon jetzt unvorstellbare Entdeckungen gemacht, von denen die Tür in der Wand hinter seinem Schrank eindeutig die verstörendste war.
Er drehte den Daumennagel von der lackierten, manikürten Oberfläche zu der Seite, die noch vor kurzem mit dem Nagelbett seiner Frau verbunden gewesen war. Beim Anblick der Blutkruste auf der unteren Hornschicht schloss er angesichts der Vorstellung, welche Schmerzen Natalie erlitten haben musste, kurz die Augen und atmete tief aus.
Er drehte den
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