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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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wäre er niemals verrückt worden.
    Er zögerte den Moment hinaus, indem er in die Küche ging. Leon hatte seit geraumer Zeit nichts mehr gegessen oder getrunken, war aber so nervös, dass er sich weder hungrig noch durstig fühlte, obwohl sein Magen unablässig gluckste wie Luft in einem Heizungsrohr. Um ihn zu beruhigen, hatte er sich einen Tee aufsetzen wollen, konnte aber den Wasserkocher nicht finden, und er wunderte sich, weshalb Natalie ausgerechnet das alte, stark verkalkte Ding eingesteckt haben sollte.
    Nachdem er einen Schluck Wasser direkt aus dem Hahn über der Spüle getrunken hatte, drückte seine Blase, und er erleichterte sich im Badezimmer. Beim Händewaschen erschrak er vor seinem Anblick im Spiegel. Seine Augen sahen aus, als hätte er eine Bindehautentzündung. Eine Vielzahl geplatzter Äderchen sorgte für einen Rotschleier und bildete einen seltsamen Kontrast zu dem Schatten, der auf dem gesamten Gesicht lag.
    Er ließ das Wasser laufen, bis es nicht mehr kälter wurde, und schöpfte sich einen Schwall aus dem Becken heraus ins Gesicht. Weil das belebende Gefühl sich nicht einstellen wollte, bückte er sich und hielt den Kopf direkt unter den Hahn, als wollte er sich etwas umständlich die Haare waschen.
    Anfangs hielt er die Augen geschlossen, und als er sie öffnete, schrak er so sehr zusammen, dass er den Kopf wieder hochriss und mit der Schläfe gegen den Wasserlauf stieß.
    Verdammt, was hat das nun wieder zu bedeuten?
    Der kalte Strahl hatte ein kleines Büschel Haare von seiner Kopfhaut gespült, aber das war nicht der Anblick, der ihn beunruhigte. Wenn er unter seelischem Stress litt, setzte bei ihm leichter Haarausfall ein, der aber nur vorübergehend war. Doch mit dem Büschel hatte sich noch etwas anderes gelöst, und das verwandelte das Wasser zu einer braunen Brühe.
    Entsetzt fuhr er sich mit beiden Händen durch die Haare und betrachtete danach seine verschmierten Handflächen.
    Wie ist das möglich?
    Gestern noch hatte er geduscht, und jetzt war sein Schopf so verdreckt wie das Fell eines Hundes, der sich auf dem Boden gewälzt hat. Und genauso roch es auch.
    Er hielt sich die Finger vor die Nase, sog die Luft ein, und für einen kurzen Moment versetzte ihn der Geruch in einen modrigen Keller.
    Wo bin ich nur gewesen?
    Leon starrte auf seine verdreckten Hände und erinnerte sich an den Schmutz, der ihm vorhin an seinen Socken aufgefallen war.
    Er gab sich einen Ruck und eilte zurück ins Schlafzimmer.
    Die mysteriöse Tür war noch da, der Schrank verschoben, und jetzt, nachdem er das Deckenlicht angeschaltet hatte, erkannte er auch die Schmutzflecke, die er bei seinem nächtlichen Ausflug auf dem Parkett hinterlassen hatte.
    Er setzte sich an den Laptop und startete die Aufnahme von letzter Nacht erneut. Gleich im ersten Durchgang bemerkte er zwei Eigentümlichkeiten, die er vorhin zwar wahrgenommen, über die er aber noch nicht nachgedacht hatte. Das erste Mal geschah es, bevor er im Schlaf den Schrank zur Seite wuchtete. Das zweite Mal, unmittelbar bevor er die mysteriöse Tür öffnete: der Schwenk.
    Weshalb sehe ich immer nach oben?
    Leon stand auf und ging ungefähr zu der Stelle, an der er auch auf dem Band stehen geblieben sein musste, einen halben Meter von der Tresortür entfernt. Dann legte er den Kopf in den Nacken.
    Auf den ersten Blick konnte er nichts Außergewöhnliches erkennen, wenn man von dem haarnadelfeinen Riss in der Zimmerdecke absah, der über den weißgetünchten Putz verlief. Leon bemerkte ihn zum ersten Mal, aber für ein Haus dieses Alters waren derartige Schönheitsfehler nicht ungewöhnlich. Der Riss schlängelte sich wie der Sprung in der Schale eines hartgekochten Eis zu einem fest in der Decke verschraubten Haken, an dem mal ein hässlicher Kronleuchter gehangen hatte, ein schweres Ungetüm, das sie noch am Tage des Einzugs entsorgt hatten.
    Der Haken war geblieben, weil Natalie geplant hatte, an ihm einmal eine Zimmerpflanze oder andere dekorative Gegenstände aufzuhängen, um den Raum etwas schöner zu gestalten. Direkt neben ihm war ein muschelförmiger Lampenschirm aus Milchglas, der eine Glühbirne überdeckte. Längst schon hatte er den alten Schirm durch einen neuen ersetzen wollen, der wärmeres Licht spendete. Jetzt irritierte ihn der Anblick der Deckenleuchte, ohne dass er im ersten Moment einen Grund dafür hätte nennen können. Erst als er am Fußende des Bettes direkt unter der Lampe stand, begriff Leon, was sein Auge

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