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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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Nagel erneut, und erst jetzt, beim zweiten Hinsehen, bemerkte er die feinen Punkte. An den meisten Stellen war der Nagel unregelmäßig verkrustet, doch an der unteren Fläche, mit bloßem Auge kaum sichtbar, schien ihm die Oberflächenstruktur einen Tick zu regelmäßig.
    Leon öffnete den Werkzeugkasten und zog eine Halogentaschenlampe heraus. Da er unter deren Licht nicht viel mehr erkennen konnte, griff er sich ein Schweizer Taschenmesser, an dem sich eine kleine Leselupe ausklappen ließ. Die Vergrößerung war nicht optimal, aber sie reichte aus, um die Einstiche in der Unterfläche des Nagels zu identifizieren. Jemand hatte mit einem filigranen Gegenstand, vermutlich einer Nadel, eine Abfolge von Zahlen in das verkrustete Blut geritzt.
    »Eins, zwei, null«, flüsterte Leon. Ihm brach der Schweiß aus, sein Herz schlug eine Synkope, die Nacken- und Wadenmuskeln verkrampften, als bereite er sich auf eine blitzartige Flucht vor. Diese Körperreaktionen wurden maßgeblich durch die letzte Zahl ausgelöst, die etwas versetzt und kaum leserlich in der zweiten Reihe stand und sein Geburtsdatum vervollständigte – die Vier für den zwölften April.
    Langsam, aber mit rasendem Puls drehte er sich zu der Tür in der Wand.
    Ist es etwa möglich, dass …
    Er stand auf, um seinen Verdacht zu überprüfen. Mit einem Mal kam es ihm sehr viel wärmer vor als noch vor wenigen Minuten, obwohl im Schlafzimmer alle Heizkörper heruntergedreht waren, weil Natalie am liebsten bei offenen Fenstern und sechzehn Grad schlief. Leon hingegen brauchte in der Nacht absolute Ruhe und bestand auf verschlossenen Fenstern und Türen, auch wenn in dieser Gegend der Straßenlärm nicht sehr ausgeprägt war. Die gedrosselte Heizung war ihr Kompromiss gewesen.
    Plötzliche Traurigkeit verdrängte die angespannte, furchtdurchsetzte Nervosität, als Leon, die Faust um den Fingernagel geschlossen, vor der Tresortür stand.
    Er versuchte, den Gedanken an Natalie mit aller Macht zu verdrängen, doch je fester er die Hand ballte, desto stärker wurde in ihm die Gewissheit, dass er womöglich nie wieder die Gelegenheit bekommen würde, mit seiner Frau über die Temperatur im Schlafzimmer zu streiten.
    Eine Beziehung ist ein Kampf, hatte ihm seine Mutter einmal erklärt und es positiv gemeint. Nicht der Streit, sondern die Gleichgültigkeit vergiftet jede Ehe.
    »Wenn du dich da mal nicht geirrt hast, Mama«, setzte Leon seine geflüsterten Selbstgespräche fort, während er das oberste der beiden Drehräder an der Tür bewegte. Denn so wie es aussah, war es nicht Gleichgültigkeit, sondern ein harter Kampf gewesen, der ihn und Natalie auseinandergebracht hatte.
    Ein Kampf auf Leben und Tod?
    Leon drehte im Uhrzeigersinn, bis die Zahl Eins unter dem Markierungspfeil über dem Zahnrad stand. Er spürte es sofort. Der Schließmechanismus reagierte auf die Position, in die er das Drehrad bewegt hatte. Das Klicken, mit dem nach der Eins auch die Zwei einrastete, bestätigte seine Theorie. Und als es schließlich so weit war, als Leon den zweiten Drehknopf nach und nach auf die Zahlen Null und Vier eingestellt hatte, die die Monatsangabe seines Geburtsdatums bildeten, geschah das, was er zuvor auf der Videoaufnahme gesehen hatte: Klack!
    Die Tresortür sprang auf.
    Leons erste Reaktion war paradox. Er sah sich im Schlafzimmer um, ob es Zeugen für diesen unglaublichen Vorfall gab.
    Als er sich vergewissert hatte, dass er immer noch alleine war, streckte er die Finger aus und hatte Sorge, sie würden in der Sekunde zerquetscht werden, in der er sie in den Türspalt legte.
    Ich kann nicht glauben, dass ich das hier wirklich mache.
    Die Tür öffnete sich leichter, als er es aufgrund ihres Gewichts vermutet hatte, da die Scharniere gut geschmiert waren. Kaum hatte er sie vollständig aufgezogen, wurde es schlagartig kälter, und diesmal war es kein Streich, den ihm seine überdrehte Psyche spielte. Durch die freigelegte dunkle Öffnung im Mauerwerk strömte kühle Luft ins Schlafzimmer.
    Sie roch staubig und nach Farbe und erinnerte ihn an den Werkzeugkeller, in dem sein Vater zu Weihnachten immer die Carrerabahn aufgebaut hatte. Und an den Geruch des Schmutzes, den er vorhin aus seinen Haaren gespült hatte.
    Leon kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schräg, doch auch als er noch näher herantrat, konnte er nur die schwarzgetünchten Wände eines kleinen Raumes erkennen, der keinen Fußboden zu haben schien.
    Es war, als hätte er das Tor zu einem

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