Der Nachtwandler
in dem Moment, in dem sein Fuß ins Leere trat. Zum ersten Mal hatte sich der Abstand der Sprossen verändert, wenn auch nur geringfügig. Er hatte keinen Halt mehr, und gleichzeitig schlug das Handy unter ihm wieder an.
Erneut mit dem unverwechselbaren klassischen Klingelton, den Natalie sich erst kürzlich ausgesucht hatte, nur diesmal wesentlich lauter.
Leon erschrak so heftig, dass er die rechte Hand zu früh löste und damit regelrecht auf die nächsttiefere Stufe sprang. Und ausgerechnet diese war entweder schlecht verarbeitet, altersschwach oder aus irgendeinem anderen Grund nicht fest in der Wand verankert. Leon bemerkte bereits in der Sekunde, in der er auf ihr zum Stehen kam, dass die Sprosse seinem Körpergewicht nicht standhalten würde, doch da war es bereits zu spät.
Es gelang ihm gerade noch, wenigstens eine Hand wieder um die Metallstrebe zu schließen und damit den Sturz abzumildern. Allerdings drehte er dabei wie ein Fensterladen an der Angel zur Seite und schlug so unglücklich mit der Hüfte gegen einen der vorstehenden Backsteine, dass sich die Taschenlampe aus seinem Gürtel löste und nach unten fiel. Wegen des lauten Handyklingelns konnte er das Splittern des Glases nicht hören, aber die Tatsache, dass die Lampe sofort erlosch, sprach für sich.
»Verdammter Mist«, rief Leon in die Dunkelheit. Nur das schwach flimmernde Display fluoreszierte auf dem Boden wie ein Glühwürmchen.
Für das letzte Stück brauchte er fast genauso lang wie für die Strecke zuvor, weil er keinen zweiten Fehler machen wollte. Als er endlich festen Boden unter den Füßen spürte, war das Telefon längst wieder verstummt, ebenso wie das Klopfen an der Haustür, und Leon benötigte eine Weile, bis er auf dem trockenen, mit einer dicken Staubschicht überzogenen Grund das Telefon fand.
Dabei wirbelte er so viel Dreck auf, dass er niesen musste, was hier unten wie eine kleine Explosion klang. Der Schall wurde von dem Mauerwerk reflektiert, dann potenziert und als dumpfes Echo mehrfach zurückgesandt. Kein Wunder, dass er bei dieser Akustik so sehr über das Handyklingeln erschrocken war. Selbst ein leises Räuspern knallte wie ein Peitschenschlag.
Wo zum Teufel bin ich hier gelandet?
Leon klappte das Handy auf und schnappte nach Luft. Bei dem Anblick des Fotos, das auf dem Display das Hintergrundbild gespeichert war, konnte es keinen Zweifel geben, dass er tatsächlich Natalies Telefon in Händen hielt. Es zeigte ihr Porträt, einen dieser unzähligen Schnappschüsse, die man von sich selbst macht, den Kopf zurückgelegt, den Mund zum breiten Lächeln verzogen, während man darauf hofft, die ausgestreckte Hand im richtigen Winkel zu halten, damit die Handykamera nicht wieder die Stirn abschneidet oder nur den Oberkörper trifft.
Erst das Geburtsbändchen im Fixierbad. Jetzt das Handy im Schacht. Natalie, was ist nur passiert?
Leon löschte den Hinweis, der sechzehn Anrufe in Abwesenheit und mehrere Mailboxnachrichten anzeigte. Die meisten waren von ihm. Die anderen eingegangenen Anrufe, darunter auch der letzte, waren mit unterdrückter Rufnummer getätigt worden.
Für ein Mobiltelefon war die Beleuchtung des Displays erstaunlich stark, aber natürlich reichte sie nicht aus, um sich einen Überblick über den mysteriösen Ort zu verschaffen.
Leon versuchte trotz der Beklemmungen, die ihn hier unten überfielen, systematisch vorzugehen. Er stellte sich den kreisförmigen Fußboden des Schachts als eine Uhr vor und machte sich eine Markierung im Staub direkt vor der Wand, die er als Zwölf-Uhr-Marke definierte. Davon ausgehend tastete er sich an dem Mauerwerk entlang, um nach einer Dreiviertelumdrehung, etwa gegen neun Uhr, auf eine weitere Sprosse zu stoßen, die auf den ersten Blick keinen Sinn zu ergeben schien, denn Leon konnte über ihr keine weiteren Streben erkennen. Es war also kein zweiter Aufgang.
Leon steckte das Handy in seine Brusttasche, packte die Sprosse und rüttelte an ihr. Sie gab nach, und im ersten Augenblick meinte er, sie aus der Wand herauszuziehen, doch dazu war das Gewicht zu groß, das er auf einmal in Händen hielt. Als er es knarren hörte, wurde ihm bewusst, dass er soeben eine weitere Tür gefunden hatte.
Anders als die im Schlafzimmer war sie nicht aus Metall, sondern aus Sperrholz und dementsprechend leichter zu bewegen, schon weil sie nicht viel größer als die Pforte einer Hundehütte war, wie Leon jetzt erkennen konnte, nachdem das Handy wieder leuchtete.
Er streckte
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