Der Nachtwandler
war Leon zurück am Laptop und ließ die Aufnahme weiterlaufen. Das Gefühl, einen Fremden zu beobachten, verstärkte sich, fast fühlte er sich wie ein Voyeur, leicht beschämt und in angstvoller Erwartung, was als Nächstes geschehen würde.
Auf dem Monitor sah Leon, wie er geraume Zeit wie angewurzelt vor der soeben freigelegten Tür stehen blieb. Da er mehrere Minuten lang nichts tat, außer zu atmen, wagte er es, auf schnellen Vorlauf zu schalten, wodurch sein Anblick auf dem Monitor einer im Wind schwankenden Fahnenstange glich. Erst nach weiteren zehn Minuten des aufgezeichneten Videomaterials veränderte Leon seine Position, und von diesem Zeitpunkt an ging alles auf einmal sehr schnell. Es war so rasch vorbei, dass er es nicht geschafft hatte, rechtzeitig auf Stopp zu drücken, und wieder zurückspulen musste, um es noch einmal zu sehen.
Das ist einfach unglaublich, dachte er, und selbst in der Wiederholung verloren die Geschehnisse auf dem Laptopmonitor nichts von ihrer morbiden, schizophrenen Faszination.
Im ersten Augenblick sah es aus, als hätte er wieder zurück zum Bett wandeln wollen, denn auf der Aufnahme hatte Leon sich umgedreht. Dann aber sah er kurz zur Zimmerdecke und schnellte daraufhin so rasch herum, dass die Bilder einen Schleier zogen.
Als das Bildkorrekturprogramm der Kamera wieder funktionierte, war Leon mit dem ersten der beiden Drehräder bereits fertig. Mit geübten Handgriffen bewegte er das zweite in verschiedene Positionen, das alles dauerte nicht länger als ein, zwei Sekunden. Dann schien die schwere Tür von alleine aufzuschnappen, nur wenige Zentimeter zwar, aber so weit, dass Leon mit beiden Händen in den Spalt hatte greifen können, um sie aufzuziehen.
Was ist dahinter?, schoss es ihm durch den Kopf, während er den Blick weiterhin starr auf den Laptop gerichtet hielt, um kein Detail zu verpassen.
Leider gab es von diesem Moment an nur noch wenige Bilder zu sehen. Alles in Leon schrie danach, herauszufinden, was sich hinter der Tür befand, die es eigentlich gar nicht geben durfte. Gleichzeitig spürte er eine niemals zuvor gefühlte Angst vor sich selbst, als er sich dabei beobachtete, wie er im Schlaf über die Schwelle trat.
Wohin? Was liegt dahinter?
Als Leon schlafwandelnd durch die Tür schritt, bückte er sich nicht tief genug, um zu verhindern, dass er mit der Kamera am Türrahmen hängen blieb. Das Gerät löste sich von seinem Kopf und fiel zu Boden, wo es nur noch wenige Sekunden lang Leons Rückenansicht aufzeichnete, wie er in der Dunkelheit verschwand.
Dann stoppte die Aufnahme mangels Bewegungsimpuls, dennoch konnte sich Leon nicht von seinem Computer abwenden.
Wie hypnotisiert glotzte er so lange auf den Monitor, bis der Bildschirmschoner das schwarze Videofenster vor seinen tränenden Augen hinwegschwemmte.
Erst dann gab er sich einen Ruck und ging langsam zu der Tür in der Wand zurück.
»Also schön, gehen wir die Sache einmal rational an«, sagte er zu sich selbst und verschränkte die Finger ineinander, um sie am Zittern zu hindern. »Wenn du weder schläfst noch geisteskrank bist, muss die Tür real sein. Und wenn sie real ist …«
… müsste sie sich noch einmal öffnen lassen.
Ihm fehlte die Kraft, diesen letzten Gedanken laut auszusprechen.
Es dauerte nicht lange, und ihm wurde bewusst, was ihm in diesem Augenblick noch größere Angst einjagte als die Erkenntnis, dass er offenbar ein Doppelleben führte, das sich hinter verborgenen Türen abspielte: nämlich die Tatsache, dass es ihm im wachen Zustand unmöglich war, die Handlungen, die er im Schlaf vorgenommen hatte, zu wiederholen.
Auf dem Video hatte er keine Sekunde gezögert und zielstrebig die Drehschlösser in die notwendigen Positionen gedreht. Offenbar kannte er die Kombination im Schlaf.
Aber nur im Schlaf.
Hier und jetzt, in der Gegenwart, hatte er nicht die leiseste Ahnung, was er tun musste, um die Schleuse zu öffnen.
12.
E inen zweiten Eingang?«
Zu Beginn des Telefonats hatte der Mann mit der brüchigen Stimme nur ungeduldig geklungen, jetzt war Benedict Baur hörbar genervt. »Wie kommen Sie darauf, Herr Nader?«
Leon hatte sich eine Notlüge zurechtgelegt, bevor er den Hausverwalter angerufen hatte. »Wir überlegen, unser Schlafzimmer zu renovieren, und unter der Tapete hinter dem Schrank zeichnen sich Konturen ab, die ich mir nicht erklären kann.«
Ein Stockwerk über ihm begann Tareski mit seinen täglichen Klavierübungen. Der Apotheker hatte spät
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