Der Nachtwandler
seine musikalische Leidenschaft entdeckt und war mindestens eine Stunde am Tag mit Tonleitern beschäftigt.
»Ich will nicht an der falschen Stelle bohren oder einen Nagel einschlagen«, log Leon weiter. »Könnte es sein, dass sich hinter der Tapete etwas verbirgt?«
»Keine Ahnung, wovon Sie reden. Ich habe Ihnen doch beim Einzug alle Pläne ausgehändigt.«
»Ja, ich weiß«, bestätigte Leon. Tatsächlich saß er genau in diesem Augenblick an seinem Schreibtisch vor dem aufgeschlagenen Ordner mit den Grundrissen, die dem Mietvertrag als Anlage beigefügt waren. Er hatte hart um sie kämpfen müssen; ursprünglich hatte der Hausverwalter sie ihm nicht geben wollen, vermutlich, damit es schwerer war, die Quadratmeterangaben für die Berechnung der Miethöhe im Vertrag zu überprüfen.
»Auf meinen Plänen ist kein weiterer Zugang verzeichnet …«
»Na, sehen Sie.«
»Aber vielleicht sind sie ja nicht …«
»Nicht vollständig? Wollen Sie uns schlampige Arbeit unterstellen?«
»Nein, natürlich nicht …«
»Aber?«
Leon schloss die Augen und atmete tief durch.
Aber hier ist eine verdammte Tür hinter dem Schrank in meinem Schlafzimmer, und ich weiß nicht, was sie da zu suchen hat.
Das ungelenke Klavierspiel über seinem Kopf wurde lauter. Leon sah zur Zimmerdecke.
»Ich will wirklich keinen Ärger machen, Herr Baur …«
»Gut, dann schlage ich vor, wir beenden das Telefonat, sonst verpasse ich noch meinen Zug.«
»Ja, sicher. Nur eine letzte Frage: Wäre es nicht möglich, dass unser Vormieter baulich etwas verändert hat, ohne Sie darüber zu informieren?«
»Rebecca Stahl?« Der Hausverwalter lachte gehässig. »Das glaub ich ja mal kaum.«
»Was macht Sie so sicher?«
»Ihre Vormieterin war blind. Die hat es nicht einmal geschafft, den Fahrstuhl richtig zu bedienen, geschweige denn, einen Eingang in ihr Schlafzimmer zu zimmern.«
»Oh, verstehe«, sagte Leon genauso matt, wie er sich fühlte. Wenn er nicht schon gesessen hätte, hätte Leon sich in diesem Moment nach einem Stuhl umgesehen.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte er und wollte das Gespräch beenden, als Baur ihn rundheraus fragte, ob irgendetwas mit ihm nicht in Ordnung wäre.
»Sie benehmen sich immer merkwürdiger, Herr Nader. Und ehrlich gesagt ist die Wohnung viel zu begehrt, um sich Stress mit verschrobenen Mietern anzutun.«
»Was meinen Sie mit verschroben?«
»Seit dem Einzug machen Sie uns nichts als Ärger. Erst bestehen Sie auf die Aushändigung der Baupläne.«
»Ich bin Architekt. So etwas interessiert mich.«
»Dann bombardieren Sie mich fortlaufend mit E-Mails, in denen Sie darum bitten, den Eigentümer zu sprechen.«
»Aus dem gleichen Grund. Seit meinem Studium verehre ich die Arbeiten des leider viel zu früh verstorbenen Professor von Boyten, und ich hätte gerne mit dem Sohn über seinen genialen Vater gesprochen …«
»Der aber nicht mit Ihnen. Siegfried von Boyten hat noch nie Kontakt zu einem seiner Mieter gesucht«, sagte Baur und ließ den zweiten Teil des Satzes »schon gar nicht zu einem wie Ihnen« unausgesprochen mitschwingen.
Im Hintergrund hörte Leon eine Bahnhofsdurchsage.
»Wenn Sie Ihr Verhalten nicht ändern, Herr Nader, dann sehe ich mich irgendwann gezwungen, unseren Vertrag zu lösen.«
»Mein Verhalten? Was soll das denn heißen? Ist es jetzt schon verboten, seine Hausverwaltung anzurufen?«
»Nein. Aber nackt im Hausflur herumzulaufen und die Mieter zu erschrecken.«
»Wie bitte?«, fragte Leon perplex, erst dann fiel ihm ein, wovon die Rede war.
»Ach so, verstehe …«, setzte er an, ohne zu wissen, was er als Nächstes sagen sollte. Das war nur, weil ich meiner verprügelten Ehefrau hinterhergerannt bin, die ich davon abhalten wollte, mich zu verlassen.
»Sparen Sie sich Ihre Ausflüchte. Räumen Sie lieber sämtliche Fahrräder, Schuhe oder sonstige Gegenstände bis übermorgen aus dem Hausflur«, bellte Baur zum Abschied in den Hörer.
»Weshalb denn das?«
»Übermorgen beginnen die Modernisierungen im Treppenhaus. Vielleicht sollten Sie besser mal unsere Mitteilungen statt Ihre Baupläne studieren, Herr Nader.«
Damit legte er auf.
Im gleichen Moment erstarb auch das Klavierspiel ein Stockwerk höher.
13.
E ine Zeitlang traute sich Leon nicht ins Schlafzimmer zurück. Dabei wusste er nicht, was schlimmer gewesen wäre: erneut vor der verschlossenen Metalltür in der Wand zu stehen oder den Schrank wieder an Ort und Stelle vorzufinden, als
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