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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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schwarzen Loch geöffnet.
    Wieder griff er sich die Taschenlampe und hielt etwas Abstand zu der Tür, als er durch sie hindurch in die Finsternis leuchtete. Und das war eine kluge Entscheidung.
    Denn direkt hinter der Schwelle gab es tatsächlich keinen Boden, sondern nur einen Abgrund, der sich wie das Maul eines Raubtiers öffnet, wie es Leon durch den Kopf schoss. Er meinte sogar die Zähne zu erkennen, die bis in den Hals dieses übernatürlichen Wesens reichten, dabei waren es lediglich die Streben einer ins Mauerwerk gehauenen Trittleiter, die tiefer und tiefer in die Finsternis führte.
    Aus Angst, wegen einer unbedachten Bewegung das Gleichgewicht zu verlieren, kniete Leon sich hin und leuchtete mit der Taschenlampe senkrecht nach unten in einen Schacht hinein. Der Strahl wurde dünner und dünner und reichte kaum bis zum Boden. Das Mauerwerk war grob und ungleichmäßig gehauen, hier und da sprangen einige der schwarzlackierten Backsteine aus dem Rund des Bogens hervor, der zu seinem Ende hin immer schmaler wurde.
    Und hier bin ich in der Nacht hinabgestiegen?
    Leon erinnerte sich an die Selbstsicherheit, die er im Schlaf an sich beobachtet hatte. Das schizophrene Gefühl, im wachen Zustand in einem anderen Körper zu stecken, verstärkte sich.
    Mit zitternden Knien stand er auf und fasste den Entschluss, erst noch einmal in Ruhe die Fakten zu sortieren, bevor er die nächste Entscheidung traf.
    Es muss eine logische Erklärung für all das geben.
    Für Natalies Wunden. Die Turnschuhe. Den Fingernagel.
    Für die Tür.
    Dr. Volwarth hatte gesagt, mit ihm sei alles in Ordnung. Er wäre nicht gewalttätig. Aber Dr. Volwarth hatte weder das Video noch den Schacht gesehen, der sich wie das Tor zu einer anderen Welt in seinem Schlafzimmer öffnete.
    Ein Schacht, aus dem weiterhin kalte Kellerluft herausströmte.
    Gemeinsam mit einem Geräusch, das Leon schon oft in seinem Leben gehört hatte und das von Sekunde zu Sekunde lauter wurde.
    Das ist unmöglich, dachte er und kroch wieder zu der Schwelle der Tresortür. Erneut richtete er den Strahl der Taschenlampe in den Abgrund, was nicht nötig gewesen wäre, denn die Quelle der klassischen Melodie verfügte über eine eigene Lichtquelle: ein Display, das im Rhythmus des Klingelns blinkte.
    »Natalie«, rief Leon und presste sich die Hand vor den Mund.
    Das Handy seiner Frau, mit dem sie erst vor wenigen Tagen das Haus verlassen hatte, lag am Fuße des Schachts und hörte nicht auf zu läuten.

15.
    A m Ende geschah es doch. Er fiel.
    Leon war immerhin so vernünftig gewesen, seine Arbeitsmontur überzuziehen, die er trug, wenn er eine seiner Baustellen besichtigte. Die Finger, mit denen er sich an den Metallsprossen festhielt, steckten in griffsicheren Arbeitshandschuhen, und dank der dicken Gummisohlen seiner stahlkappenverstärkten Halbstiefel konnte er auch mit den Füßen nicht abrutschen.
    An der Gürteltasche seines Blaumanns hatte er die Stabtaschenlampe so befestigt, dass sie senkrecht nach unten strahlte, wobei er es vermied, beim Abstieg in die Tiefe zu sehen.
    Schritt für Schritt, Sprosse für Sprosse, tastete er sich nach unten, dem Handy entgegen, das in der Sekunde zu klingeln aufhörte, in der er sich über die Türschwelle gehangelt hatte. In den Brunnen, wie er den Schacht nannte, von dem er mittlerweile gut die Hälfte überwunden hatte.
    Obwohl es mit jedem Meter kühler wurde, perlte ihm der Schweiß von der Stirn. Zuerst hatte er es ignorieren wollen, doch als es immer schlimmer wurde, unterbrach er seinen Abstieg, um sich mit dem Handrücken notdürftig über die Augen zu wischen.
    Es geschah im letzten Drittel. Mittlerweile hatte Leon schon Routine entwickelt, hatte die Abstände der Sprossen verinnerlicht und wusste daher, wie weit er das rechte Bein strecken, wie tief er nach unten gleiten musste, bevor sein Fuß auf die nächste Stufe im Mauerwerk traf und er die linke Hand lösen durfte, um sie in dem eingeübten Winkel nach unten fallen zu lassen, damit sie hier die nächsttiefere Sprosse zu fassen bekam, wonach sich der Bewegungsablauf mit der rechten Hand und dem linken Bein wiederholen konnte.
    Leon war sich sicher, die letzten Meter zur Not mit geschlossenen Augen zurücklegen zu können, und dieser Trugschluss sollte ihm zum Verhängnis werden.
    Es fehlten noch etwa zwei Körperlängen bis zum Grund, als mehrere Dinge gleichzeitig passierten: Leon hörte ein leises Klopfen, das oben von seiner Wohnungstür zu kommen schien, genau

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