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Der Nachtwandler

Der Nachtwandler

Titel: Der Nachtwandler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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waren geplatzt. Außerdem lief ihr die Nase, doch sie machte keine Anstalten, sie zu putzen.
    »Vorerst ja«, sagte ihr Mann und stopfte sich das Geldbündel in die hintere Hosentasche.
    »Aber wenn das so weitergeht, werden wir uns die Miete bald nicht mehr leisten können.« Er deutete eine kriecherische Verbeugung an und bat seine Gattin um Entschuldigung. »Ich meinte natürlich, du wirst es dir nicht mehr leisten können.«
    »Das lass mal meine Sorge sein«, sagte Frau Falconi und griff sich ein Kosmetiktuch aus der Vorratsbox auf dem Waschbecken. Sie war gerade im Begriff, sich zu schneuzen, als sie plötzlich innehielt und den Kopf schräg legte. Es dauerte eine Weile, dann hörte auch Leon, was ihre Aufmerksamkeit erregte.
    Eine leise Melodie.
    Nein. Falsch. Keine Melodie. Tonleitern.
    Herr Tareski aus dem vierten Stock hatte wieder mit seinen Klavierübungen begonnen, und aus irgendeinem Grund brachte das Frau Falconi zum Lächeln. Sie lauschte eine Weile wie verzückt, dann folgte sie ihrem Ehemann aus dem Bad, und Leon wusste nicht, was ihn mehr verstörte: Dass er auf einmal wieder in der Dunkelheit stand, in einer Zwischenwelt, die er mit jeder neuen Entdeckung immer weniger verstand. Oder dass er das Gefühl nicht loswurde, dass ihm Frau Falconi, kurz bevor das Licht ausgegangen war, durch den Venezianischen Spiegel hindurch verschwörerisch zugezwinkert hatte.

28.
    E ine Stunde später hatte Leon die Seiten getauscht. Jetzt stand er nicht länger im Gang, sondern im Badezimmer, wenn auch nicht in dem der Falconis, sondern in seinem eigenen.
    Wieder holte er zum Schlag aus, und wieder ließ er das Brecheisen gegen den Spiegel knallen, doch anders als unten im Labyrinth zerstob das Glas hier oben in unzählige Splitter und gab eine lichtundurchlässige Betonwand preis.
    Kein Venezianischer Spiegel. Logisch.
    Leon lachte, der Hysterie nahe.
    Wieso solltest du dich auch selbst beobachten wollen?
    Und selbst wenn – war es überhaupt denkbar, dass er während des Schlafwandelns diese Schattenwelt konstruiert hatte: Den Schrank? Das Labyrinth? Den Spiegel?
    Er keuchte, atemlos von dem schnellen Aufstieg und immer noch erschöpft von den erfolglosen Versuchen, die Tür in der Sackgasse zu öffnen.
    Nachdem die Falconis verschwunden waren, hatte er in der Finsternis verharrt und nach weiteren Gesprächsfetzen gelauscht. Dabei war er das Gefühl nicht losgeworden, neben sich zu stehen, betäubt von dem Schock der Erkenntnis, seine Nachbarn hier unten heimlich beobachten zu können. Irgendwann, er wusste nicht, ob Minuten oder Stunden vergangen waren, hatte er die Taschenlampe wieder angeschaltet und sich auf den Weg zu dem ACHTUNG-Schild gemacht.
    Hätte er die Tür nicht schwarz auf weiß auf dem Foto aus Natalies Tagebuch gesehen, hätte er sie in tausend Jahren nicht gefunden, so gut war sie getarnt.
    Leon hatte die Klinkerwand der scheinbaren Sackgasse abgetastet und nicht den geringsten Punkt zum Ansetzen gefunden. Kein Spalt. Keine Kante. Kein Scharnier.
    Insgeheim hatte er damit gerechnet.
    Nach all den Strapazen wäre das ja auch zu einfach gewesen.
    Er hatte die Wand nach Hohlräumen abgeklopft, das Eisen gegen das Schild gehämmert und selbst die umliegenden Wände und den Boden nach verdeckten Hebeln abgesucht. Alles ohne Ergebnis. Vielleicht hätte ihm ein Schneidbrenner oder ein Vorschlaghammer etwas genutzt, aber wo hätte er damit ansetzen sollen?
    Und selbst wenn es ihm gelingen sollte, diese Geheimtür zu öffnen, sollte er dahinter tatsächlich Natalie wiederfinden? Ihre Rufe waren verstummt, so wie das gedämpfte Klavierspiel Tareskis, und mittlerweile war sich Leon nicht mehr sicher, ob er sie vorhin überhaupt gehört hatte. Er war sich keiner Wahrnehmung mehr sicher, am wenigsten seiner selbst.
    Nach den gescheiterten Versuchen, die Tür von dem Foto zu öffnen, hatte er sich, dem Nervenzusammenbruch nahe, auf den erdigen Boden gesetzt und das Gesicht in den Händen vergraben.
    Und hier, am tiefsten Punkt seiner Verzweiflung, nicht ahnend, dass nicht einmal die Hälfte aller noch kommenden Alpträume überstanden waren, stellte er die alles entscheidende Überlegung an:
    Gesetzt den Fall, ich habe ein zweites, nachtaktives Ich. Und gesetzt den Fall, ich habe mir in meinem zweiten Bewusstseinszustand eine Parallelwelt aufgebaut – dann darf der Zutritt zu dieser Welt nicht sehr kompliziert sein. Sonst könnte ich ihn im Schlaf nicht meistern!
    Unter dieser Prämisse sprach alles

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