Der Nachtwandler
rausholen.«
Dann gab es einen Knall, und Leon, der durch seine Drehungen mittlerweile die Orientierung verloren hatte, starrte in eine undurchdringliche Schwärze, die in ihm die Illusion eines endlosen, vor ihm liegenden Universums erzeugte.
Um notfalls eine Verteidigungswaffe in der Hand zu haben, löste er das Brecheisen aus seinem Werkzeuggürtel und hielt es wie einen Schlagstock in Kopfhöhe. Bereit zum Zuschlagen.
Gleichermaßen erschöpft wie nervös griff er an sein Stirnband, um den Kamerascheinwerfer wieder zu aktivieren. In dieser Sekunde wurde er so stark geblendet, dass er die Augen schließen musste.
Als er sie wieder öffnete, stand direkt neben ihm eine Frau und weinte.
27.
L eon war der Schreck so heftig in die Glieder gefahren, dass er reflexartig zuschlug.
Hart. Mit voller Wucht. Ohne eine Sekunde darüber nachzudenken.
Er traf die Frau mit den schwarzen, streng zurückgebundenen Haaren direkt zwischen die Augen.
Wegen der niedrigen Deckenhöhe hatte er nicht weit ausholen können, aber wenigstens die Spitze des Eisens hätte sich tief in den Schädelknochen bohren müssen.
Doch Frau Falconi aus dem ersten Stock blieb ungerührt stehen und sagte: »Mann, ich bin mir nicht mal sicher, ob das Miststück da überhaupt noch drinsteckt.«
Leon starrte auf den Riss über ihrem Gesicht und hatte für einen Moment das Gefühl, eine übersinnliche Erfahrung zu machen. Dann rollte seine Nachbarin aus dem ersten Stock mit ihrem tränenden, rotgeränderten Auge, dessen Lider sie mit den beiden Zeigefingern festhielt, damit es sich nicht schließen konnte, und ihm dämmerte, was passiert war.
Frau Falconis Kopf war tatsächlich nur eine Armlänge von ihm entfernt, doch sie stand nicht auf seiner, sondern auf der anderen Seite des Ganges. Hinter der Wand! Vor ihrem Badezimmerspiegel!
»Kann eine Kontaktlinse denn einfach so hinter dem Auge verschwinden?«, hörte Leon ihren Mann fragen. Seine Stimme war wie die seiner Frau nur dumpf zu verstehen.
Leon streckte den Arm aus und tastete vorsichtig nach dem Splitter, den er mit dem Brecheisen aus der Scheibe in der Wand geschlagen hatte. Das Glas befand sich in Kopfhöhe und war in etwa so groß wie ein Flachbildfernseher.
Ein Venezianischer Spiegel!
Leon hatte von seinem Standpunkt aus direkten Einblick in das Badezimmer seiner Nachbarn, während Frau Falconi nur sich selbst in dem Spiegel erkennen konnte, der auf Leons Seite mit dickem, schalldichtem Sicherheitsglas verstärkt sein musste. Sein Arm schmerzte von der Erschütterung, die das Brecheisen durch seine Knochen gejagt hatte. Frau Falconi hingegen hatte nichts gehört oder gespürt und setzte unbeirrt die Suche nach ihrer verlorenen Kontaktlinse fort.
»Nein, das Bindegewebe verhindert, dass die Dinger hinters Auge rutschen und im Kopf verschwinden«, antwortete sie ihrem Mann, der mittlerweile ebenfalls ins Badezimmer getreten war.
Wie seine Frau hatte auch er, dem Namen und dem Akzent entsprechend, unverkennbar italienische Wurzeln: dichte, dunkle Haare, braune Augen und eine gesunde Bräune selbst im Winter. Doch im Gegensatz zu dem gepflegten Auftreten seiner Gattin wirkte ihr Ehemann eher verwahrlost. Während sie eine weiße, figurbetonte Bluse trug, hing ihm ein zerknittertes Sommerhemd über dem Schmerbauch.
»Immer das Gleiche. Wir müssen etwas Wichtiges besprechen, und du machst Zicken.«
»Na klar. Ich popel mir auf der Pupille rum, nur um dich zu ärgern.«
Die Stimmen des Ehepaars drangen aus einem kleinen Schlitz direkt über dem Spiegel, der vermutlich mit der Lüftung des Bades korrespondierte.
Leon bemerkte im Hintergrund eine Bewegung, dann sah er, wie der Ehemann einen Badezimmerschrank öffnete und eine helle Sporttasche daraus hervorholte.
»Unser Geld wird bald knapp, Schatz.«
»Du meinst, mein Geld.«
Herr Falconi zog eine abfällige Grimasse hinter ihrem Rücken.
»Das habe ich gesehen«, sagte seine Frau, ohne sich umzudrehen.
Leon, der sich bislang hauptsächlich auf das verheulte Gesicht vor seinen Augen konzentriert hatte, trat jetzt näher an den Verhörspiegel, um den Mann ins Visier zu nehmen.
»Holst du bald neues?«, fragte der und fächerte die Scheine eines Geldbündels durch, das er der Sporttasche entnommen hatte.
»Das dürfte vorerst ja wohl reichen«, seufzte Frau Falconi, die einen Schritt vom Waschbecken zurückgetreten war. Ihre Finger hatten das Auge so sehr strapaziert, dass kaum noch das Weiße zu sehen war, so viele Äderchen
Weitere Kostenlose Bücher