Der Nachtwandler
dagegen, dass sich die Tür mit roher Gewalt öffnen lassen würde.
Leon hatte sich wieder aufgerappelt und den Daumen mit aller Kraft auf die Mitte des Schildes gepresst, als wäre es der kindergesicherte Verschluss einer Medikamentendose. Gleichzeitig hatte er versucht, mit der anderen Hand erst gegen, dann mit dem Uhrzeigersinn das ACHTUNG-Schild zu drehen, und vermutlich wäre das sehr viel einfacher gegangen, wenn er nicht zuvor die Kanten verbogen hätte. Doch beim dritten Anlauf machte es hörbar Klick, und dann ließ es sich auf einmal zur Seite drehen.
Das war vor einer halben Stunde gewesen. Leon hatte das hinter dem Schild freigelegte Sicherheitsschloss bestaunt, es mit den Fingern abgetastet und schließlich ausprobiert, ob einer seiner Schlüssel am Bund passte. Das euphorische Hochgefühl, als sich der Schlitz problemlos mit seinem Haustürschlüssel herumdrehen ließ, war in sich zusammengefallen, als Leon entdeckte, dass er nicht die Tür, sondern nur eine postkartengroße Abdeckung geöffnet hatte, unter der ein elektronisches Eingabefeld versteckt lag. Die Tasten waren nicht mit Zahlen, sondern mit Buchstaben beschriftet.
Und jetzt?
Den Schlüssel hatte er bei sich getragen. Aber welchen Code sollte er eingeben?
Leon versuchte es mit den naheliegenden Passwörtern: Natalie, Leon, ihrem Nach- und Kosenamen und sogar mit Morphet. Alles ohne Erfolg.
Dann war sein Blick auf die Innenseite der Abdeckplatte des Schlosses gefallen. Erst beim näheren Hinsehen erkannte er die dünnen Bleistiftstriche, die mehrere Buchstaben bildeten. Er las:
Die Violine ist der Schlüssel!
Was sollte das nun wieder bedeuten?
Mein schlafwandlerisches Ich baut sich Eselsbrücken, die ich im wachen Zustand nicht verstehe!
Leon hatte seine Belastungsgrenze eindeutig überschritten.
Wieder hatte die Lösung eines Rätsels nur ein weiteres zutage gebracht, und jetzt, vor den Trümmern seines Badezimmerspiegels stehend, wurde Leon endgültig bewusst, dass er weder physisch noch psychisch mehr in der Lage war, den Dingen ganz alleine auf den Grund zu gehen.
Er wollte, nein, er konnte nicht länger auf Sven warten. Er benötigte Hilfe.
Und zwar sofort.
Leon eilte aus dem Bad in den Flur, nahm den Telefonhörer aus der Ladestation und ging mit ihm zurück ins Schlafzimmer. Hier hatte er die Visitenkarte von Kommissar Kroeger neben dem Laptop deponiert.
Was zum Teufel?
Er starrte auf das Bedienfeld seines Hausapparats.
Die Tasten leuchteten unter jeder Berührung auf, es gab auch ein elektrostatisches Knistern, wenn er sich die Muschel ans Ohr presste und konzentriert lauschte. Ansonsten aber war die Leitung tot.
Ich hatte es doch aufgeladen?
Kein Freizeichen. Keine Veränderung, als er die ersten Ziffern eintippte.
Verdammt, das darf doch nicht wahr sein.
Er erinnerte sich an Natalies Handy, nicht aber daran, wo er es zuletzt hingelegt hatte. War es noch unten im Schacht?
In seinen Taschen jedenfalls steckte es nicht, und er konnte es auch nirgendwo anders finden. Also ging er zur Haustür, um sich einen Stock tiefer bei Frau Helsing zu erkundigen, ob er ihren Anschluss benutzen durfte, und stand vor dem nächsten Problem. Er war eingesperrt.
Leon starrte eine Zeitlang wie entrückt seine Haustür an, fixierte das Schloss, an dem normalerweise sein Schlüssel hing. Dann fiel ihm ein, in welchem Schloss er ihn stecken gelassen hatte.
Unten. Im Labyrinth. Verdammt …
Leon stieß einen Seufzer aus, der in ein langgestrecktes Gähnen überging.
Ich kann das nicht. Nicht noch einmal.
Aber er hatte keine Wahl. Er war unendlich müde, die Augen schwer, als hingen Gewichte an ihren Lidern, doch es half alles nichts. Wenn er den Wahnsinn so schnell wie möglich beenden wollte, musste er noch einmal hinunter.
Ins Labyrinth.
Zuvor ging er ins Bad, um sich zu erleichtern, dankbar dafür, dass es ihm nicht mehr möglich war, sich selbst in dem zerstörten Spiegel zu sehen. Wenn er auch nur im Ansatz so aussah, wie er sich fühlte, würde er vor sich selbst erschrecken.
Während Leon im Stehen urinierte, fiel sein Blick auf den Medikamentenschrank, den Natalie in Kopfhöhe über der Toilette angebracht hatte. Seit ihrer Reise nach Reunión war ihre Hausapotheke gut sortiert. Zwischen Aspirin, Antibiotika, Jod, Grippe- und Durchfallmitteln, Pillen gegen Reiseübelkeit, Allergien und Wundverbänden fand Leon auch die hochdosierten Koffeintabletten, die sie in der Anfangsphase ihrer Galerieeröffnung genommen hatte, um
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