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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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während sie auf das mitternächtliche Meer blickt, das sich in einen klaren Horizont erstreckt.
    »Das ist schön«, sagt sie.
    Sie runzelt die Stirn, als sie die bloßen, glatten Finger seiner rechten Hand auf der Reling sieht.
    »Suchst du vielleicht danach?« Marco macht eine schwungvolle Handbewegung. Die Haut verändert sich und zeigt die Narbe um seinen Ringfinger. »Sie wurde von einem Ring verursacht, als ich vierzehn war. Etwas Lateinisches war eingraviert, aber ich weiß nicht mehr, was.«
    » Esse quam videri «, sagt Celia. »Mehr Sein als Schein. Das Familienmotto der Bowens. Mein Vater hat es sehr gern in alles Mögliche eingravieren lassen. Ich weiß nicht genau, ob er sich der Ironie bewusst war. Dieser Ring war vermutlich so ähnlich wie meiner.«
    Sie legt ihre rechte Hand neben seine. Die Gravur im Silberring an ihrem Finger, die Marco für ein filigranes Muster gehalten hatte, ist der gleiche Spruch in geschwungener Schrift.
    Celia zieht den Ring über den Fingerknöchel und lässt Marco die Narbe sehen.
    »Das ist die einzige Verletzung, die ich nie vollkommen heilen konnte«, sagt sie.
    »Meiner war ähnlich«, entgegnet Marco und betrachtet ihren Ring, aber sein Blick schweift immer wieder zu der Narbe zurück. »Er war nur aus Gold. Deinen hast du von Alexander?«
    Celia nickt.
    »Wie alt warst du damals?«
    »Ich war sechs. Ein schlichter silberner Ring. Es war das erste Mal, dass ich jemandem begegnet bin, der das Gleiche tun konnte wie mein Vater. Er sagte, ich sei ein Engel. Etwas Schöneres hatte mir noch nie jemand gesagt.«
    »Das ist eine Untertreibung«, sagt Marco und legt seine Hand über ihre.
    Eine jähe Brise reißt an den vielschichtigen Papiersegeln. Die Seiten flattern, während sich die tintenschwarze Fläche unten kräuselt.
    »Das warst du«, sagt Marco.
    »Nicht absichtlich«, erwidert Celia.
    »Macht nichts«, sagt Marco und schlingt seine Finger um ihre. »Du weißt, ich kann das auch.«
    Der Wind nimmt zu und lässt dunkle Tintenwellen gegen das Schiff schlagen. Seiten fallen aus den Segeln und umwirbeln sie wie Laub. Das Schiff neigt sich, und Celia verliert beinahe den Halt, doch sie lacht, als Marco ihr die Arme um die Taille legt.
    »Das ist ziemlich beeindruckend, Mr Zauberer«, sagt sie.
    »Nenn mich bei meinem Namen«, sagt Marco. Er hat sie noch nie seinen Namen aussprechen hören, und als er sie jetzt in den Armen hält, sehnt er sich plötzlich danach. »Bitte«, fügt er hinzu, als sie zögert.
    »Marco«, sagt sie mit tiefer, leiser Stimme. Der Klang seines Namens auf ihrer Zunge ist noch berauschender, als er es sich vorgestellt hatte, er beugt sich vor, um ihn zu schmecken.
    Kurz bevor seine Lippen ihre berühren, wendet sie sich ab.
    »Celia«, seufzt Marco ihr ins Ohr, und in ihrem Namen liegt all die Sehnsucht und Verzweiflung, die auch sie empfindet, als sein Atem auf ihrem Nacken brennt.
    »Tut mir leid«, sagt sie. »Ich … ich möchte nicht alles noch komplizierter machen, als es schon ist.«
    Er erwidert nichts, hält die Arme weiter um sie geschlungen, aber die Brise legt sich, und die gegen das Schiff schlagenden Wellen verebben.
    »Einen Großteil meines Lebens habe ich versucht, mich zu beherrschen«, sagt Celia und lehnt den Kopf an seine Schulter. »Mich in- und auswendig zu kennen, keine Unordnung zu dulden. Wenn ich bei dir bin, geht mir das verloren. Das ängstigt mich, und –«
    »Ich will dich nicht ängstigen«, fällt Marco ihr ins Wort.
    »Es ängstigt mich, wie sehr mir das gefällt«, vollendet Celia den Satz und dreht sich wieder zu ihm. »Es ist so verführerisch, mich in dir zu verlieren. Loszulassen. Zuzulassen, dass du mich davor bewahrst, Lüster zu zerbrechen, statt mich ständig selbst darum kümmern zu müssen.«
    »Ich könnte das.«
    »Ich weiß.«
    Schweigend stehen sie da, während das Schiff dem endlosen Horizont entgegentreibt.
    »Lass uns weggehen«, sagt Marco. »Irgendwohin. Fort vom Zirkus, fort von Alexander und deinem Vater.«
    »Das geht nicht«, sagt Celia.
    »Natürlich geht das«, widerspricht Marco. »Du und ich, zusammen könnten wir alles tun.«
    »Nein«, erwidert Celia. »Nur hier können wir alles tun.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Hast du jemals darüber nachgedacht, einfach wegzugehen? Richtig, ernsthaft daran gedacht, den Plan durchzuziehen, und nicht nur als Traum oder flüchtige Vorstellung?« Als er nicht antwortet, fährt sie fort. »Denk darüber nach, jetzt sofort. Stell dir vor, wir

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