Der Nachtzirkus
bevor sie darin untergeht.
»Bist du gekommen, um mir deine illustren Illusionen zu zeigen?«, fragt sie.
»Eigentlich stand das nicht auf meinem Abendprogramm, aber wenn du möchtest …«
»Meine hast du ja schon gesehen, es wäre nur gerecht.«
»Ich könnte dir die ganze Nacht zusehen«, sagt er.
»Hast du doch«, sagt Celia. »Mir ist aufgefallen, dass du heute Abend in jeder Vorstellung warst.«
Sie stellt sich in die Mitte des Kreises und wirbelt in ihrem Kleid herum.
»Ich sehe jeden Platz«, sagt sie. »Selbst wenn du in der hintersten Reihe sitzt, bleibst du mir nicht verborgen.«
»Ich dachte mir, wenn ich vorne sitze, ist die Versuchung zu groß, dass ich dich berühre«, sagt Marco und geht nach vorne zur ersten Stuhlreihe, die das Bühnenrund säumt.
»Bin ich nah genug für dein Zauberstück?«, fragt sie.
»Wenn ich nein sage, kommst du dann näher?«, gibt er zurück, ohne sein Grinsen zu verbergen.
Anstelle einer Entgegnung tritt Celia noch einen Schritt auf ihn zu, bis ihr Kleidersaum über seine Schuhe streift. Nah genug für ihn, um ihr eine Hand auf die Taille zu legen.
»Letztes Mal musstest du mich nicht anfassen«, bemerkt sie, protestiert aber nicht.
»Ich dachte, ich probiere etwas Besonderes«, sagt Marco.
»Soll ich die Augen schließen?«, fragt Celia verschmitzt, doch statt einer Antwort wirbelt er sie herum, so dass sie mit dem Rücken zu ihm steht, seine Hand weiterhin auf ihrer Taille.
»Pass auf«, flüstert er ihr ins Ohr.
Die gestreiften Zeltbahnen versteifen sich, der weiche Stoff wird hart und schließlich zu Papier. Worte erscheinen an den Wänden, gedruckte Buchstaben über handgeschriebenem Text. Celia erkennt Sonette von Shakespeare und Bruchstücke von Hymnen an griechische Göttinnen. Das Zelt füllt sich zunehmend mit Dichtung, sie bedeckt Wände und Decke und breitet sich über dem Boden aus.
Und dann öffnet sich das Zelt allmählich, das Papier knickt und reißt. Die schwarzen Streifen reichen hinaus ins Freie, die weißen beleben sich und wachsen zu Ästen empor.
»Gefällt es dir?«, fragt Marco, als alles am Platz ist und sie inmitten von matt glänzenden, mit Gedichten übersäten Bäumen stehen.
Celia kann nur nicken.
Widerstrebend lässt Marco sie los und folgt ihr zwischen den Bäumen hindurch, wo sie auf Ästen und Stämmen Auszüge von Verszeilen liest.
»Wie kommst du auf solche Bilder?« Celia legt die Hand auf die dicke Papierrinde eines Baums. Sie fühlt sich warm und fest unter ihren Fingern an und leuchtet von innen wie eine Laterne.
»Ich sehe Dinge im Kopf«, antwortet Marco. »In meinen Träumen. Ich stelle mir vor, was dir gefallen könnte.«
»Ich glaube nicht, dass du dir vorstellen sollst, wie du deine Gegenspielerin erfreuen könntest«, sagt Celia.
»Ich habe die Spielregeln nie ganz begriffen, deshalb folge ich lieber meinem Instinkt.«
»Mein Vater hält sich nach wie vor bedeckt, was die Spielregeln angeht. Vor allem, wenn ich ihn frage, wann oder wie das Urteil gefällt wird.«
»Alexander wollte es mir auch nicht sagen.«
»Ich hoffe, er liegt dir damit nicht genauso in den Ohren wie mein Vater mir«, sagt Celia. »Obwohl mein Vater natürlich auch nichts anderes zu tun hat.«
»Ich habe Alexander seit Jahren kaum gesehen. Er ist immer sehr … distanziert und nicht sehr entgegenkommend gewesen, aber er ist nun mal der Mensch, der mir am nächsten steht. Und trotzdem erzählt er mir nichts.«
»Ich bin richtig neidisch«, erwidert Celia. »Mein Vater sagt mir ständig, was für eine Enttäuschung ich bin.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du irgendwen enttäuschen könntest«, sagt Marco.
»Du hattest noch nie das Vergnügen, meinen Vater kennenzulernen.«
»Erzählst du mir, was ihm wirklich zugestoßen ist?«, fragt Marco. »Ich bin ziemlich neugierig.«
Celia seufzt und bleibt neben einem Baum stehen, in den sehnsuchtsvolle Liebeserklärungen eingeritzt sind. Bisher hat sie die Geschichte niemandem erzählt, hatte nie die Gelegenheit gehabt, sie jemandem mitzuteilen, der sie verstehen würde.
»Mein Vater war immer ein bisschen zu ehrgeizig«, setzt sie an. »Er wollte etwas tun, das ihm nicht gelungen ist, jedenfalls nicht so wie geplant. Er wollte aus der greifbaren Welt verschwinden.«
»Wie sollte das gehen?«, fragt Marco. Celia ist froh, dass er das Vorhaben nicht gleich als undurchführbar abtut. Sie sieht, wie er es sich vorzustellen versucht, und bemüht sich, es ihm so gut wie möglich
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