Der Nachtzirkus
zu erklären.
»Stell dir vor, ich hätte ein Glas Wein«, sagt sie. Ein Glas Rotwein erscheint in ihrer Hand. »Danke. Wenn ich diesen Wein in ein Wasserbecken, einen See oder gar ins Meer gießen würde, wäre er dann weg?«
»Nein, er wäre nur verdünnt.«
»Genau. Mein Vater hat herausgefunden, wie er das Glas verschwinden lassen kann.« Beim Sprechen löst das Glas in ihrer Hand sich auf, der Wein jedoch bleibt und schwebt in der Luft. »Aber statt ein Becken oder ein größeres Glas zu nehmen, hat er sich sozusagen gleich ins Meer ergossen. Er hat Probleme, sich wieder zusammenzusetzen. Natürlich schafft er es, aber es ist schwierig. Hätte er sich auf einen bestimmten Ort beschränkt, ginge es ihm wahrscheinlich besser. Jetzt treibt er ziellos umher. Muss sich krampfhaft an Dingen festhalten. Er spukt in seinem Haus in New York herum. In Theatern, in denen er früher oft auftrat. Er hält sich an mir fest, wenn er kann, allerdings habe ich gelernt, ihm aus dem Weg zu gehen, wenn ich es möchte. Er hasst das, besonders weil ich mich dabei seiner eigenen Schutzmethode bediene, nur in verstärktem Maß.«
»Wäre es denn machbar?«, fragt Marco. »Was er versucht hat? So, dass es funktioniert, meine ich.«
Celia betrachtet den ohne sein Glas schwebenden Wein. Dann berührt sie ihn mit der Hand, und er zittert und zerfällt in kleine Tropfen, die sich wieder zusammensetzen.
»Ich denke schon«, sagt sie. »Mit den richtigen Gegebenheiten. Man bräuchte einen Maßstab. Einen Ort, einen Baum, etwas Greifbares, um sich daran festzuhalten. Damit man nicht frei im Raum schwebt. Ich nehme an, mein Vater wollte, dass die ganze Welt so funktioniert wie seine eigene, aber ich glaube, sie müsste dann stärker umgrenzt sein. Wie ein Glas, nur mit mehr Bewegungsfreiheit.«
Sie berührt erneut den schwebenden Wein und schiebt ihn zu dem Baum, neben dem sie steht. Die Flüssigkeit sickert in das Papier und durchtränkt es langsam, bis der ganze Baum als einziger in einem weißen Wald purpurfarben leuchtet.
»Du manipulierst mein Zauberwerk«, sagt Marco und mustert interessiert den weingetränkten Baum.
»Du lässt es zu«, entgegnet Celia. »Ich war mir nicht sicher, ob es klappt.«
»Könnte dir gelingen, was er versucht hat?«, fragt Marco.
Celia betrachtet nachdenklich den Baum. »Wenn ich einen Grund dazu hätte, dann vielleicht schon«, sagt sie. »Aber ich mag die greifbare Welt ganz gern. Ich glaube, mein Vater hat sein Alter gespürt, das fortgeschrittener war, als es schien, und er fand die Vorstellung, in der Erde zu verrotten, nicht sehr reizvoll. Vielleicht wollte er sich auch zum Herrn über sein Schicksal aufschwingen, aber das weiß ich nicht genau, da er mich vor seinem Versuch nicht zu Rate gezogen hat. Er hat mich mit vielen offenen Fragen und einem vorgetäuschten Begräbnis zurückgelassen. Was übrigens einfacher ist, als man annehmen könnte.«
»Aber er spricht mit dir?«, fragt Marco.
»Ja, wenn auch nicht so oft wie früher. Er sieht auch genauso aus. Es ist wie ein Nachhall, sein Bewusstsein hat quasi die Form einer körperlichen Erscheinung angenommen. Aber es fehlt ihm an Festigkeit, und das ärgert ihn schrecklich. Vielleicht wäre er greifbarer geblieben, wenn er es anders angepackt hätte. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich für den Rest der Ewigkeit in einem Baum gefangen sein möchte.«
»Ich glaube, das hängt vom Baum ab«, erwidert Marco.
Er dreht sich zu dem purpurnen Baum, der sogleich stärker leuchtet, aus dem Glutrot wird ein warmes loderndes Feuer.
Die Bäume rundherum verändern sich auf dieselbe Weise.
Durch das zunehmende Licht wird es so hell, dass Celia die Augen schließt.
Der Boden unter ihren Füßen gerät mit einem Mal ins Schwanken, doch Marcos Hand an ihrer Taille stützt sie.
Als sie die Augen öffnet, stehen sie auf dem Achterdeck eines Schiffs mitten im Meer. Das Schiff besteht aus Büchern, mit Segeln aus Tausenden von überlappenden Seiten, und das Meer, auf dem es treibt, ist tiefschwarze Tinte.
Am Himmel erscheinen winzige Lichtpunkte wie Sternengewimmel und hell wie die Sonne.
»Ich dachte mir, nach dem vielen Gerede über beengte Räume wäre ein bisschen Weite ganz nett«, sagt Marco.
Celia tritt an den Schiffsrand und fährt mit den Händen über die Reling, die aus Buchrücken besteht. Eine leichte Brise, die den Duft von staubigen Büchern und feuchter, fetter Tinte birgt, spielt mit ihrem Haar.
Marco stellt sich neben sie,
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