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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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möglich, ohne sie zu berühren.
    Und dann erzählt er ihr Geschichten. Mythen, die er von seinem Lehrmeister gehört hat. Selbst ausgedachte Phantasien, die auf Auszüge und Teile von anderen Geschichten zurückgehen, gelesen in Büchern mit brüchigem Rücken. Zirkusideen, die nicht in Zelte passen würden.
    Sie antwortet ihm mit Geschichten aus ihrer Kindheit, die sie in Hinterzimmern von Theatern verbrachte. Abenteuern in entlegenen Städten, die der Zirkus besucht hatte. Sie erzählt von Ereignissen aus ihren spiritistischen Sitzungen und ist froh, dass er dieses Unterfangen als genauso absurd empfindet wie sie seinerzeit.
    Sie sitzen da und unterhalten sich bis kurz vor Tagesanbruch, er verlässt sie erst, als der Zirkus schon schließt.
    Marco presst Celia an seine Brust, bevor er aufsteht und sie hochzieht.
    Er nimmt eine Karte aus der Tasche, auf der nur der Buchstabe M und eine Adresse steht.
    »Ich bin nicht mehr so oft bei Chandresh«, sagt er und reicht ihr die Karte. »Wenn ich nicht bei ihm bin, findest du mich dort. Du bist zu jeder Tages- und Nachtzeit willkommen. Wenn dir der Sinn nach etwas Abwechslung steht.«
    »Danke«, sagt Celia. Sie dreht die Karte in ihren Fingern um, und sie verschwindet.
    »Wenn das alles vorbei ist, lasse ich dich nicht mehr so leicht gehen, egal, wer von uns gewinnt. Einverstanden?«
    »Einverstanden.«
    Marco nimmt ihre Hand, führt sie an die Lippen und küsst den Silberring, der ihre Narbe verdeckt.
    Celia fährt ihm mit den Fingerspitzen übers Gesicht. Dann dreht sie sich um und verschwindet, bevor er die Hand ausstrecken und sie zurückhalten kann.

Eine dringende Bitte
    CONCORD, MASSACHUSETTS, 30 . OKTOBER 1902
    D ie Schafe sind heute schlecht aufgelegt, als Bailey sie von einer Weide zur nächsten führen will. Sie widerstehen seinem Stupsen, Fluchen und Schieben, finden das Gras auf der jetzigen Wiese viel besser als das hinter dem Gatter in der niedrigen Steinmauer, ganz gleich, wie sehr Bailey sie vom Gegenteil zu überzeugen versucht.
    Plötzlich meldet sich eine Stimme hinter ihm.
    »Hallo, Bailey.«
    Poppet sieht irgendwie anders aus, wie sie da hinter der Mauer steht. Das Licht ist zu hell, die Umgebung zu banal und grün. Ihre Kleidung wirkt zu elegant, obwohl sie ihre Inkognito-Sachen und nicht das Zirkuskostüm trägt. Ihr Rock ist zu gerüscht für einen Werktag, und ihre Stiefel sind zwar staubig, aber zu schick und unpraktisch zum Herumlaufen auf einer Farm. Sie trägt keinen Hut, ihr rotes Haar ist offen, der Wind weht es ihr um den Kopf.
    »Hallo, Poppet«, sagt er, nachdem sich seine Überraschung gelegt hat. »Was machst du hier?«
    »Ich muss mit dir über etwas reden«, sagt sie. »Das heißt, dich etwas fragen.«
    »Und das kann nicht bis heute Abend warten?«, fragt Bailey. Inzwischen trifft er Poppet und Widget jeden Abend, sobald der Zirkus öffnet.
    Poppet schüttelt den Kopf.
    »Ich dachte, es ist besser, wenn ich dir Zeit zum Nachdenken gebe«, sagt sie.
    »Worüber nachdenken?«
    »Ob du mit uns kommst.«
    Bailey sieht sie mit zusammengekniffenen Augen an. »Was?«, bringt er gerade noch hervor.
    »Wir sind heute Abend zum letzten Mal hier«, sagt sie. »Und ich möchte, dass du mit uns kommst, wenn wir gehen.«
    »Das soll wohl ein Scherz sein«, sagt Bailey.
    Poppet schüttelt den Kopf.
    »Nein, ganz bestimmt nicht. Ich wollte mir ganz sicher sein, dass es richtig ist, dich darum zu bitten, und jetzt bin ich mir sicher. Es ist wichtig.«
    »Was soll das heißen? Warum ist es wichtig?«, fragt Bailey.
    Poppet seufzt. Sie blickt nach oben, als suche sie im blauen Himmel die hinter den flauschigen weißen Wolken verborgenen Sterne.
    »Ich weiß, dass du mit uns kommen sollst«, sagt sie. »Das weiß ich ganz genau.«
    »Aber warum? Warum ich? Was soll ich denn tun, einfach nur hinterhertrotten? Ich bin nicht wie du und Widget. Ich kann nichts Besonderes. Ich gehöre nicht in den Zirkus.«
    »Doch! Ich weiß noch nicht genau, warum, aber ich bin sicher, dass du zu mir gehörst. Ich meine, zu uns.« Eine tiefe Röte überzieht ihr Gesicht.
    »Ich würde ja gerne, wirklich. Es ist nur …« Bailey betrachtet die Schafe, das Haus und die Scheune auf dem mit Apfelbäumen gesäumten Hügel. Es würde entweder den Streit »Harvard gegen Farm« lösen oder ihn noch viel, viel schlimmer machen. »Ich kann nicht einfach weggehen«, sagt er, meint aber eigentlich etwas anderes.
    »Ich weiß«, sagt Poppet. »Tut mir leid. Ich sollte das nicht von

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