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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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betrogen fühlen.
    In einem ziemlich breiten Durchgang auf der Rückseite des Zirkus, in dem sich nur eine Handvoll Besucher aufhält, bleibt Mr A. H— stehen. Chandresh beobachtet ihn aus einiger Entfernung, kann aber nicht sehen, warum er stehen geblieben ist. Ob er sich vielleicht mit jemandem unterhält? Durch seine Maske sieht Chandresh nur den grauen Anzug und den schwebenden Zylinder. Ein freies Ziel ohne Hindernis dazwischen.
    Eine Stimme versichert ihm, dass der Mann nicht echt ist. Ein Hirngespinst seiner Phantasie. Nichts weiter als ein Traum.
    Dann folgt eine Pause. Für einen kurzen Augenblick wird die Zeit langsamer, wie etwas, das sich im Fallen der Schwerkraft widersetzt. Der kalte Wind auf den ungeschützten Zirkuswegen lässt nach. Nichts flattert mehr, weder die Zeltplanen noch die Bänder der vielen Masken.
    Im höchsten Zelt verliert eine Akrobatin das Gleichgewicht und fällt ein gutes Stück, bevor einer ihrer Kollegen sie auffängt und nur knapp davor bewahrt, auf dem Boden aufzuschlagen.
    Das Feuer auf dem großen Platz zischt und stößt unvermittelt eine schwarze Rauchwolke aus, die mehrere in der Nähe stehende Besucher hustend zurückspringen lässt.
    Das Kätzchen, das gerade aus Poppets Hand auf die ihres Bruders springt, dreht sich plötzlich in der Luft, landet auf dem Rücken statt auf den Füßen und rollt sich empört schreiend zu Widget.
    Die Zauberkünstlerin erstarrt mitten in ihrer geschmeidigen Vorführung und wird leichenblass. Sie schwankt, als sei sie einer Ohnmacht nahe, und mehrere aufmerksame Zuschauer wollen ihr schon helfen, aber sie fällt nicht.
    Marco sackt zusammen, als hätte ihm ein unsichtbarer Angreifer einen Hieb in den Magen versetzt. Ein vorbeigehender Besucher packt ihn am Arm und stützt ihn.
    Und Chandresh Christophe Lefèvre zieht das schwere Silbermesser aus seiner Manteltasche und wirft es, ohne zu zögern.
    Das Messer fliegt aus seiner Hand und wirbelt in perfekten Umdrehungen Schneide über Griff durch die Luft.
    Es folgt einem präzisen, vorgegebenen Ziel. So genau, wie es möglich ist.
    Dann bewegt sich sein Zielobjekt.
    Mr A. H—s maßgeschneiderter grauer Anzug gleitet zur Seite. Nur ganz wenig. Ein anmutiger Schritt. Eine unbewusste Geste. Eine Gewichtsverlagerung im Raum.
    Und so streift das Messer nur seinen Ärmel und landet in der Brust des Mannes, mit dem er spricht. Die Klinge dringt mühelos durch den geöffneten schwarzen Mantel und trifft sein Herz, als wäre es schon immer das gesuchte Ziel gewesen, der silberne Griff ragt knapp unter dem roten Schal aus der Brust.
    Mr A. H— fängt Herrn Friedrick Thiessen auf, als er nach vorne fällt.
    Chandresh starrt seine leere Hand an, als könne er sich nicht entsinnen, was sie eben noch hielt. Taumelnd geht er in Richtung des Feuers zurück. Beim Verlassen des Zirkus vergisst er, seine Maske abzugeben, und als er sie am nächsten Tag in seinem Haus findet, weiß er nicht mehr, woher sie kommt.
    Mr A. H— legt Herrn Thiessen auf den Boden und redet dabei unablässig auf ihn ein, zu leise, als dass jemand es hören könnte. Die wenigen Besucher ringsum merken zuerst nichts, wobei einige allerdings verwirrt feststellen, dass ein paar Meter weiter die beiden jungen Artisten ihre Vorstellung plötzlich unterbrochen haben und der Junge im schwarzen Anzug die sichtlich verstörten Kätzchen einsammelt.
    Nach einer ganzen Weile verstummt Mr A. H—, fährt Herrn Thiessen mit seiner grau behandschuhten Hand übers Gesicht und schließt ihm sanft die staunenden Augen.
    Die folgende Stille wird durch Poppet Murrays Schrei erschüttert, während sich die Blutlache auf dem Boden unter ihren weißen Stiefeln ausbreitet.
    Bevor nach dem ersten Schock das Chaos ausbrechen kann, entfernt Mr A. H— vorsichtig das Messer aus Herrn Thiessens Brust, steht auf und geht.
    Als er an dem verdutzten, noch immer schmerzgekrümmten Marco vorbeikommt, reicht er ihm ohne ein Wort oder einen Blick das blutverschmierte Messer und verschwindet in der Menge.
    Die wenigen Besucher, die den Vorfall bezeugen, werden rasch fortgedrängt. Später glauben sie, dass alles nur ein schlauer Trick war. Ein Hauch Theatralik an einem ohnehin festlichen Abend.

DER TRÄNENTEICH

    Zum Schild an diesem Zelt gehört ein Kästchen mit glatten schwarzen Steinen. Der Text weist an, beim Eintreten einen davon mitzunehmen.
    Innen ist es dunkel, die Decke ist mit aufgespannten schwarzen Regenschirmen bedeckt, deren gebogene Griffe

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