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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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herabhängen wie Eiszapfen.
    In der Mitte des Raums ist ein Becken. Ein Teich, umfriedet von einer schwarzen Steinmauer, die weiße Kiesel säumen.
    In der Luft liegt ein salziger Meereshauch.
    Du gehst an den Rand, um hineinzusehen. Unter deinen Füßen knirschen die Kiesel.
    Der Teich ist flach, aber er leuchtet. Ein flackerndes Licht schimmert durch die Wasserfläche. Ein weicher Glanz, der ausreicht, um den Teich und die am Grund liegenden Steine zu erleuchten. Es sind Aberhunderte, ein jeder wie der in deiner Hand. Das Licht dringt durch die Lücken zwischen den Steinen.
    Wellige Spiegelungen an den Wänden lassen den Eindruck entstehen, als stünde das gesamte Zelt unter Wasser.
    Du setzt dich an den Rand und drehst deinen schwarzen Stein zwischen den Fingern immer wieder um.
    Die Stille im Zelt entfaltet eine ruhige Melancholie.
    Erinnerungen schälen sich langsam aus den dunklen Winkeln deiner Gedanken. Flüchtige Enttäuschungen. Verpasste Gelegenheiten und aussichtslose Vorhaben. Liebeskummer und Schmerz und trostlose, schreckliche Einsamkeit.
    Kummer, den du längst vergessen glaubtest, vermischt sich mit noch immer frischen Wunden.
    Der Stein in deiner Hand wird schwerer.
    Als du ihn zu den übrigen Steinen in den Teich fallen lässt, fühlst du dich leichter. Als hättest du mehr losgelassen als einen glattgeschmirgelten Stein.

Abschied
    CONCORD, MASSACHUSETTS, 30 . UND 31 . OKTOBER 1902
    B evor die Sonne untergeht, klettert Bailey auf die Eiche, um seine versteckte Schatulle zu holen. Er blickt zum Zirkus, der in dunkles Orange getaucht ist und lange spitze Schatten über die Wiese wirft. Als er die Schatulle öffnet, findet er nichts, was er wirklich mitnehmen möchte.
    Nur Poppets weißen Handschuh steckt er in seine Manteltasche, bevor er die Schatulle wieder zurückstellt.
    Zu Hause zählt er seine Ersparnisse, die höher sind, als er erwartet hatte, dann packt er Wechselwäsche und einen Ersatzpullover ein. Er überlegt, ob er noch ein zusätzliches Paar Schuhe mitnehmen soll, kommt aber zu dem Schluss, dass er sich im Notfall wahrscheinlich welche von Widget leihen kann. Dann steckt er alles in eine Ledertasche und wartet, bis seine Eltern und Caroline im Bett liegen.
    In der Zwischenzeit packt er die Tasche nochmals aus und wieder ein, weil er nicht recht weiß, was davon er mitnehmen soll und was nicht.
    Als er sicher ist, dass alle schlafen, wartet er noch eine Stunde und dann vorsichtshalber noch eine. Mittlerweile ist er zwar recht gut darin geübt, sich zu den seltsamsten Zeiten ins Haus zu schleichen, aber unbemerkt hinauszukommen ist doch noch etwas anderes.
    Er geht auf Zehenspitzen durch den Flur und staunt, wie spät es schon ist. Als seine Hand auf dem Türknauf liegt, dreht er noch einmal um, stellt die Tasche ab und sucht leise nach einem Stück Papier. Dann setzt er sich an den Küchentisch und schreibt seinen Eltern einen Brief. Er erklärt ihnen so gut wie möglich die Gründe für sein Weggehen und hofft, dass sie ihn verstehen. Harvard oder die Zukunft der Farm erwähnt er nicht.
    Bailey erinnert sich daran, dass seine Mutter einmal sagte, sie wünsche ihm Glück und Abenteuer, als er noch sehr klein war. Und wenn das hier kein Abenteuer ist, dann weiß er es auch nicht.
    »Was machst du da?«, fragt eine Stimme hinter ihm.
    Caroline steht im Nachthemd mit einer Wolldecke um die Schultern in der Tür, ihre Haare sind zu einem stacheligen Wirrwarr von Pin Curls hochgesteckt.
    »Geht dich nichts an«, sagt er und wendet sich wieder seinem Brief zu. Er unterschreibt, faltet ihn zusammen und lehnt ihn an eine mit Äpfeln gefüllte Holzschale mitten auf dem Tisch. »Sieh zu, dass sie das lesen.«
    »Brennst du durch?«, fragt Caroline mit Blick auf seine Tasche.
    »So was in der Richtung.«
    »Das ist nicht dein Ernst«, sagt sie gähnend.
    »Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme. Ich werde schreiben, wenn ich kann. Sag ihnen, sie sollen sich keine Sorgen machen.«
    »Bailey, geh wieder ins Bett.«
    »Geh du lieber wieder ins Bett, Caroline. Du siehst aus, als könnte dir etwas mehr Schönheitsschlaf nicht schaden.«
    Als Antwort verzieht Caroline ihr Gesicht zu einer höhnischen Grimasse.
    »Und außerdem«, fährt Bailey fort, »wann hast du dich jemals für mich interessiert?«
    »Die ganze Woche schon führst du dich auf wie ein Baby«, zischt Caroline, immer noch im Flüsterton. »Ständig bist du in diesem Zirkus und bleibst die ganze Nacht weg. Werd endlich erwachsen, Bailey

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