Der Nachtzirkus
Anzug, nunmehr wieder an ihn gewandt. »Sieben? Wird deine Tochter die achte sein?«
»Das wird nicht wieder passieren«, erwidert Hector, jedes Wort scharf und schwer trotz seiner durchscheinenden Gestalt.
»Wenn sie gewinnt, wird sie dich dafür hassen, falls sie das nicht schon jetzt tut.«
»Sie wird gewinnen. Du solltest nicht vergessen, dass sie immer stärker war als dein Spieler.«
Der Mann im grauen Anzug hebt eine Hand in Richtung Feuer, worauf der Lärm hinter dem Platz stärker zu ihnen herüberhallt, und Hector hört, wie seine Tochter in wachsender Panik immer wieder Friedricks Namen ruft.
»Hört sich das für dich nach Stärke an?«, fragt der Mann im grauen Anzug, senkt die Hand und lässt Celias Stimme im Getöse der Menge verebben.
Hector runzelt nur finster die Stirn, das lodernde Feuer lässt seine Miene noch verzerrter erscheinen.
»Ein unschuldiger Mann ist heute Abend hier gestorben«, fährt der Mann im grauen Anzug fort. »Ein Mann, den deine Spielerin ziemlich gern mochte. Wenn sie nicht schon angefangen hätte, schwach zu werden, dann wäre es spätestens jetzt so weit. Wolltest du das erreichen? Hast du nach all den Wettstreiten nichts gelernt? Man kann nie vorhersagen, wie eine Sache sich entwickelt. Es gibt auf beiden Seiten keine Garantien.«
»Das Ganze ist noch nicht vorbei«, sagt Hector und verschwindet in einem verschwommenen Fleck aus Licht und Schatten.
Der Mann im grauen Anzug geht weiter, als wäre er nie stehen geblieben, und bahnt sich den Weg durch die Samtvorhänge, die den Platz von der Außenwelt trennen. Bevor er den Zirkus verlässt, betrachtet er am Tor noch eine Weile die Wunschtraumuhr .
Schöner Schmerz
LONDON, 1 . NOVEMBER 1901
M arcos Wohnung war früher schlicht und karg eingerichtet, ist inzwischen jedoch vollgestopft mit einem Sammelsurium an Möbelstücken, die Chandresh irgendwann lästig geworden und in diesem Fegefeuer gelandet sind, statt komplett ausrangiert zu werden.
Da die Regale nicht mehr ausreichen, türmen die unzähligen Bücher sich mittlerweile auch auf alten chinesischen Hockern und mit Saristoffen bezogenen Kissen.
Die Uhr auf dem Kaminsims, ein Werk von Herrn Thiessen, zeigt auf kurz vor drei und ist mit winzigen Büchern verziert, deren Seiten sich im Sekundentakt umwenden.
Die größeren Bücher auf dem Schreibtisch folgen einem weniger gleichmäßigen Takt, da Marco ständig zwischen handgeschriebenen Bänden wechselt und auf losen Blättern Notizen macht oder Berechnungen anstellt. Immer wieder streicht er Symbole und Zahlen durch, legt Bücher beiseite, um sich andere zu holen, und kehrt dann wieder zu den beiseitegelegten zurück.
Plötzlich geht die Tür auf, Schlösser öffnen sich und Scharniere schwingen wie wild. Marco fährt vom Schreibtisch hoch und stößt ein Tintenfass um.
Celia steht in der Tür, ein paar Strähnen haben sich aus ihren hochgesteckten Haaren gelöst. Ihr cremefarbener Mantel, der für das Wetter zu leicht ist, hängt offen an ihr herunter.
Erst als sie ins Zimmer tritt und die Tür sich hinter ihr mehrfach klickend verriegelt, fällt Marco auf, dass ihr Kleid blutverschmiert ist.
»Was ist passiert?«, fragt er, und die Hand, mit der er das Tintenfass aufrichten wollte, hält mitten in der Luft inne.
»Du weißt ganz genau, was passiert ist«, sagt Celia. Ihre Stimme klingt ruhig, aber auf der dunklen vergossenen Tintenfläche bilden sich schon erste Kräuselwellen.
»Geht es dir gut?«, fragt Marco und tritt zu ihr.
»Mir geht es ganz und gar nicht gut«, sagt Celia. Das Tintenfass zersplittert, verspritzt Tinte über die Papiere und Marcos weiße Hemdsärmel und – unsichtbar – auch auf seine schwarze Weste. Seine Hände sind ebenfalls mit Tinte bekleckert, doch das Blut auf ihrem Kleid lenkt ihn noch immer ab; es leuchtet scharlachrot auf dem elfenbeinfarbenen Satin und verschwindet unter dem schwarzen samtenen Überwurf, der es wie einen Käfig bedeckt.
»Celia, was hast du getan?«, fragt er.
»Ich hab’s versucht«, antwortet sie. Ihre Stimme versagt, sie muss es wiederholen. »Ich hab’s versucht. Ich dachte, ich könnte es vielleicht wieder in Ordnung bringen. Ich habe ihn so lange gekannt. Ich dachte, es ist vielleicht so wie eine Uhr, die man einstellt und die dann wieder tickt. Ich wusste genau, was nicht in Ordnung war, aber ich konnte es nicht beheben. Er war mir so vertraut, aber es … es hat nicht funktioniert.«
Ein Schluchzer entfährt ihrer Brust, und die seit
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