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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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sie dann Tsukiko, doch an diesem Abend geht sie nicht zu der Schlangenfrau, sondern setzt sich allein an ihren Tisch und mischt zwanghaft ihre Tarotkarten.
    Sie dreht eine Karte um, dann noch eine und noch eine.
    Nur Schwerter. Reihenweise spitz nach oben zeigende Schwerter. Vier. Neun. Zehn. Das Ass der Schwerter.
    Sie schiebt die Karten wieder in den Haufen, lässt sie dann liegen und wendet sich etwas anderem zu.
    Unter dem Tisch bewahrt sie eine Hutschachtel auf. Es ist der sicherste Platz, der ihr einfiel, und für sie am leichtesten zugänglich. Oft vergisst sie, dass die Schachtel überhaupt da ist, verborgen unter dem herabfallenden Samt. Immer zwischen ihr und den Ratsuchenden. Eine ständige unsichtbare Präsenz.
    Jetzt greift sie unter den Tisch und zieht sie aus dem samtenen Schatten ins flackernde Kerzenlicht.
    Eine schlichte runde Hutschachtel, bezogen mit schwarzer Seide. Sie hat kein Schloss und kein Scharnier, der Deckel wird von zwei sorgfältig verknoteten Bändern gehalten, eines schwarz, das andere weiß.
    Isobel stellt die Schachtel auf den Tisch und wischt oben eine dicke Staubschicht ab, allerdings sitzt noch viel mehr davon in den verknoteten Bändern. Sie zögert und denkt einen Augenblick lang, es wäre besser, sie in Ruhe zu lassen und an ihren Platz zurückzustellen. Aber es scheint keine Rolle mehr zu spielen.
    Langsam bindet sie die Bänder auf und löst die Knoten mit den Fingernägeln. Als sie locker genug sind und sie den Deckel öffnen kann, entfernt sie ihn vorsichtig, als fürchte sie sich vor dem, was sie im Inneren finden könnte.
    In der Schachtel ist ein Hut.
    Unverändert, wie sie ihn eingepackt hatte. Ein alter schwarzer Bowlerhut, am Rand leicht abgenutzt. Er ist mit weiteren schwarzen und weißen Bändern verschnürt, eingewickelt wie ein Geschenk in hellen und dunklen Schleifen. Unter den Knoten befindet sich eine einzelne Tarotkarte. Zwischen Hut und Karte steckt ein gefaltetes weißes Spitzentaschentuch mit gestickten schwarzen Verzierungen am Rand.
    Es war alles so simpel gedacht. Die Knoten und was dahinterstand.
    Während des Unterrichts damals hatte sie gelacht und ihre eigenen Karten bevorzugt. Sie schienen ihr so klar, trotz der unzähligen Bedeutungen.
    Es war nur eine Vorsichtsmaßnahme. Unter so unvorhersehbaren Umständen sind Vorsichtsmaßnahmen klug. Auch nicht seltsamer, als wenn man an einem sonnigen Tag einen Regenschirm auf einen Spaziergang mitnimmt.
    Aber setzt das alles hier nicht nur Staub an? Sie kann es nicht mit Sicherheit sagen, hat kein Barometer für etwas so Ungreifbares. Kein Thermometer für Chaos. Im Augenblick hat sie das Gefühl, als laufe sie gegen die Leere an.
    Vorsichtig nimmt Isobel den Hut aus der Schachtel, die langen Bänder ergießen sich wie ein Wasserfall rundherum. Dafür, dass es sich um einen alten Hut mit einem ausgefransten Band handelt, an dem ein Taschentuch und eine Karte befestigt sind, ist das Ganze auf seltsame Weise schön. Fast festlich.
    »Der kleinste Zauber kann die größte Wirkung haben«, sagt Isobel, überrascht, dass ihr die Stimme versagt und sie den Tränen nahe ist.
    Der Hut gibt keine Antwort.
    »Ich glaube nicht, dass du überhaupt eine Wirkung hast«, sagt Isobel.
    Wieder hält der Hut keine Antwort für sie bereit.
    Eigentlich hatte sie den Zirkus nur im Gleichgewicht halten und verhindern wollen, dass zwei in Konflikt stehende Parteien sich oder ihrer Umgebung Schaden zufügen.
    Sie hatte die Waagschalen vor dem Zerbrechen bewahren wollen.
    Vor ihrem geistigen Auge sieht sie die beiden immer wieder zusammen im Ballsaal. Sie erinnert sich an Bruchstücke eines mitgehörten Streits. Wie Marco sagte, er hätte alles für sie getan, eine Bemerkung, die Isobel damals nicht verstanden und wenig später vergessen hatte.
    Jetzt aber ist alles klar.
    Die starken Gefühle in den Karten, wenn sie daraus etwas über ihn erfahren wollte, galten immer nur Celia.
    Und der Zirkus, alles nur für sie. Für jedes schöne Zelt, das er schafft, baut sie eins im Gegenzug.
    Und sie, Isobel, hat dazu beigetragen, alles im Gleichgewicht zu halten. Sie hat ihm geholfen. Ihnen beiden geholfen.
    Sie blickt auf den Hut in ihren Händen.
    Weiße Spitze an schwarzer Wolle, ineinander verschlungene Bänder. Unzertrennlich.
    In einem jähen Wutanfall reißt Isobel an den Bändern und zerrt an den Schleifen.
    Das Taschentuch schwebt wie ein Geist nach unten, die Initialen C. N. B. gut lesbar vor den gestickten Ranken.
    Die

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