Der Nachtzirkus
.«
»Genau das habe ich vor«, sagt Bailey. »Es ist mir egal, ob du mich verstehst. Ich werde hier nicht glücklich. Du schon, weil du fade und langweilig bist und dir ein fades, langweiliges Leben genügt. Mir nicht. Niemals. Deshalb gehe ich. Tu mir einen Gefallen und heirate jemanden, der sich gut um die Schafe kümmert.«
Er nimmt einen Apfel aus der Schale und wirft ihn in die Luft, fängt ihn auf und steckt ihn in seine Tasche, bevor er sich fröhlich winkend von Caroline verabschiedet.
Er lässt sie am Tisch stehen, wo sie in stummer Wut den Mund öffnet und schließt, während er leise das Haus verlässt.
Voller Energie macht Bailey sich auf den Weg. Er rechnet schon fast damit, dass Caroline hinter ihm herläuft oder sofort ihre Eltern weckt und ihnen alles erzählt. Doch mit jedem Schritt wird klarer, dass er wirklich fortgeht und nichts ihn aufhalten kann.
Der Weg kommt ihm länger vor in der stillen Nacht und ohne die Menschen, die jeden Abend dasselbe Ziel hatten wie er, wenn er zum Zirkus rannte, um schon vor dem Öffnen da zu sein.
Die Sterne sind noch zu sehen, als Bailey mit der Tasche über der Schulter die Eiche erreicht. Er ist später dran als geplant, doch bis zum Tagesanbruch bleibt noch reichlich Zeit.
Aber die Wiese, die sich unter dem sternenübersäten Himmel erstreckt, ist leer, als wäre dort nie etwas anderes gewesen als Gras und Laub und Nebel.
Rückblick
LONDON, 1 . NOVEMBER 1901
D er Mann im grauen Anzug gleitet schnell durch die Menge der Zirkusbesucher. Auf seinem Weg zum Tor teilen sie sich wie Wasser und treten zur Seite, ohne auch nur zu überlegen.
Die Gestalt, die ihm am Rand des großen Platzes den Weg verstellt, ist durchsichtig und wirkt im Schein des Feuers und der sachte schaukelnden Papierlaternen wie eine Fata Morgana. Der Mann im grauen Anzug bleibt vor seinem Kollegen stehen, obwohl er problemlos durch die Erscheinung hindurchgehen könnte.
»Interessanter Abend, nicht wahr?«, fragt Hector ihn, was irritierte Blicke seitens der Besucher ringsum zur Folge hat.
Der Mann im grauen Anzug bewegt kaum merklich die Finger, als blätterte er eine Buchseite um, und das Starren hört auf, die neugierigen Blicke wandern weiter und richten sich auf andere Dinge.
Die Menge zieht in beiden Richtungen an den beiden Männern vorbei, ohne sie wahrzunehmen.
»Spar dir die Mühe«, sagt Hector geringschätzig. »Die Hälfte der Leute sieht sowieso hinter jeder Ecke Gespenster.«
»Die Sache ist außer Kontrolle geraten«, sagt der Mann im grauen Anzug. »Dieser Schauplatz war immer zu exponiert.«
»Gerade das macht es doch so lustig«, sagt Hector. Er wedelt mit dem Arm in Richtung der Menge. Seine Hand gleitet durch die Schulter einer Frau, die sich überrascht umdreht und dann weitergeht, als sie nichts entdeckt. »Hast du deine Tarnmethoden nicht schon zur Genüge eingesetzt, um das hier zu kontrollieren, nachdem du dich bei Chandresh eingeschmeichelt hast?«
»Ich kontrolliere gar nichts«, sagt der Mann im grauen Anzug. »Ich habe ein gewisses Regelwerk zur Geheimhaltung eingeführt und es mit einer Aura des Rätselhaften verschleiert. Auf meinen Rat hin zieht der Zirkus unangekündigt von Ort zu Ort. Das nützt beiden Spielern.«
»Und hält sie voneinander fern. Wenn du sie von Anfang an zusammengebracht hättest, hätte sie ihn schon vor Jahren geschlagen.«
»Macht dich dein jetziger Zustand etwa blind? Es war töricht von dir, in deine eigene Falle zu gehen, und es ist töricht von dir, wenn du nicht siehst, dass sie ineinander vernarrt sind. Wenn man sie nicht voneinander ferngehalten hätte, wäre es lediglich schon früher passiert.«
»Du hättest ein verdammter Kuppler werden sollen«, sagt Hector, dessen zusammengekniffene Augen im wogenden Licht immer wieder verschwinden. »Ich habe meine Spielerin besser trainiert.«
»Und trotzdem ist sie zu mir gekommen. Sie hat mich persönlich hierher eingeladen, während du –« Er hält inne, da ihm eine Gestalt ins Auge sticht.
»Hatte ich dir nicht empfohlen, einen Spieler zu suchen, der verlieren kann?«, sagt Hector und beobachtet, wie sein Gefährte dem verzweifelten jungen Mann mit dem Bowlerhut hinterhersieht, der, ohne sie zu bemerken, an ihnen vorbeigeht und Chandresh durch das Besuchergewimmel folgt. »Dir wachsen deine Schüler immer zu sehr ans Herz. Leider merken das nur die wenigsten.«
»Und wie viele deiner Schüler wollten das Spiel von sich aus beenden?«, fragt der Mann im grauen
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