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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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Tarotkarte fällt zu Boden. Das Bild eines Engels prangt auf der Vorderseite, darunter das Wort Ausgleich .
    Isobel hält atemlos inne. Sie wartet auf eine Nachwirkung, dass etwas geschieht, in Antwort auf diese Tat. Aber alles ist still. Die Kerzen flackern um sie herum. Der Perlenvorhang hängt reglos und gleichmütig da. Mit einem Mal kommt sie sich dumm und albern vor, allein in ihrem Zelt mit einem Haufen verknäueltem Band und einem alten Hut. Sie kann nicht fassen, dass sie so töricht war zu glauben, sie könnte dergleichen beeinflussen. Dass irgendetwas von ihr abhinge.
    Sie greift nach unten, um die Karte aufzuheben, doch dann hört sie etwas, und ihre Hand erstarrt. Für den Bruchteil einer Sekunde klingt es wie die quietschenden Bremsen eines Zuges.
    Erst einen Augenblick später wird Isobel klar, dass jemand draußen vor dem Zelt schreit und dieser Jemand Poppet Murray ist.

Am dunkelsten ist es vor dem Morgengrauen
    CONCORD, MASSACHUSETTS, 31 . OKTOBER 1902
    P oppet und Widget stehen am Zirkustor, abseits vom Kassenhäuschen, obwohl die Schlange für Eintrittskarten zu dieser späten Stunde geschrumpft ist. Der sternenübersäte Tunnel wurde bereits entfernt und durch einen gestreiften Vorhang ersetzt. Die Wunschtraum uhr hinter ihnen schlägt dreimal. Widget bedient sich aus einer Tüte Popcorn mit Schokoladenglasur.
    »Willst du noch länger warten?«, fragt er mit vollem Mund.
    »Ich habe versucht, es ihm so gut wie möglich zu erklären«, sagt Poppet. »Ich glaube, ich habe es mit Kuchen verglichen.«
    »Das sollte eigentlich funktioniert haben«, sagt Widget. »Wer könnte einem guten Kuchenvergleich widerstehen?«
    »Ich weiß nicht, ob er mich verstanden hat. Ich glaube, er war sehr verstört, dass ich ihn gebeten habe, heute Abend nicht zu kommen, wenn er nicht mit uns geht. Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte, ich wollte ihm nur klarmachen, wie wichtig es ist.« Poppet seufzt und lehnt sich an den Eisenzaun. »Und ich habe ihn geküsst«, fügt sie hinzu.
    »Ich weiß«, erwidert Widget.
    Poppet schaut ihn böse an, und ihr Gesicht wird fast so rot wie ihr Haar.
    »War keine Absicht«, sagt Widget mit einem Schulterzucken. »Du verbirgst es wirklich nicht gut. Du solltest mehr üben, wenn du nicht möchtest, dass ich bestimmte Dinge sehe. Hat Celia dir das nicht beigebracht?«
    »Warum wirst du darin immer besser und ich immer schlechter?«, fragt Poppet.
    »Glück?«
    Poppet verdreht die Augen. »Hast du mit Celia geredet?«, fragt sie.
    »Ja. Ich habe ihr erzählt, dass Bailey mit uns kommen sollte. Sie hat nur gesagt, sie würde nichts dagegen unternehmen.«
    »Immerhin etwas.«
    »Sie ist zerstreut«, sagt Widget und schüttelt seine Popcorntüte. »Sie hat mir nichts erzählt und kaum zugehört, als ich ihr erklären wollte, worum wir ihn gebeten haben. Ich hätte ihr auftischen können, dass wir ein fliegendes Nilpferd als Haustier mitnehmen wollen, und sie hätte nichts dagegen gehabt. Aber Bailey kommt nicht nur zum Spaß mit, oder?«
    »Ich weiß es nicht«, sagt Poppet.
    »Was weißt du denn?«
    Poppet blickt in den Nachthimmel. Die meisten Sterne werden von dunklen Wolken verdeckt, aber stellenweise kommen sie sanft funkelnd in Sicht.
    »Erinnerst du dich noch, als wir im Sterngucker waren und ich etwas Helles sah, aber nicht wusste, was es war?«
    Widget nickt.
    »Es war der große Platz. Der ganze Platz, nicht nur das Feuer. Hell und lichterloh brennend. Und dann … Ich weiß nicht, was passiert ist, aber Bailey war da. So viel steht fest.«
    »Und das wird bald passieren?«, fragt Widget.
    »Sehr bald, glaube ich.«
    »Sollen wir ihn entführen?«
    »Also wirklich, Widge.«
    »Nein, im Ernst. Das ginge doch. Wir schleichen uns in sein Haus, schlagen ihm etwas Schweres auf den Kopf und schleppen ihn dann so unauffällig wie möglich hierher. Wir können ihn stützen, dann denken die Leute, er ist ein Betrunkener aus der Stadt. Bevor er wieder bei Bewusstsein ist, sitzt er im Zug, und dann hat er keine Chance mehr. Schnell und schmerzlos. Jedenfalls schmerzlos für uns. Das heißt, außer der Schlepperei.«
    »Das ist doch eine Schnapsidee, Widge.«
    »Ach, komm schon, das wird bestimmt lustig.«
    »Da bin ich anderer Meinung. Ich glaube, wir haben unser Teil getan, und jetzt müssen wir warten.«
    »Bist du dir da ganz sicher?«, fragt Widget.
    »Nein«, antwortet Poppet leise.
    Wenig später geht Widget los und holt sich noch etwas zu essen. Poppet wartet allein am Tor

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