Der Nachtzirkus
Uhr.
Als Celia den Kopf hebt, begegnet er ihrem Blick, streift ihr den Mantel von den Schultern und legt seine Hände auf ihre bloßen Arme.
Celia wird von der vertrauten Leidenschaft überflutet, die sie bei jeder Berührung von ihm empfindet, und sie kann und will sich nicht länger dagegen wehren.
»Marco«, sagt sie und fingert an den Knöpfen seiner Weste herum. »Marco, ich –«
Bevor sie den Satz beenden kann, küsst er sie heiß und fordernd.
Während sie Knopf um Knopf öffnet, zieht er blindlings an Verschlüssen und Bändern, ohne die Lippen von ihren zu nehmen.
Das sorgsam gefertigte Kleid sinkt zu einem Häufchen um ihre Füße zusammen.
Marco wickelt sich die gelösten Korsettschnüre um die Handgelenke und zieht Celia mit sich zu Boden.
Sie entkleiden sich weiter, bis nichts mehr sie trennt.
Mit der Zunge malt Marco stumme Entschuldigungen und Komplimente über Celias Körper, all das, was er nicht laut aussprechen kann.
Er findet andere Möglichkeiten, es ihr zu sagen, seine Finger hinterlassen schwache Tintenspuren. Er genießt jeden Laut, den er ihr entlockt.
Der gesamte Raum zittert, als sie sich vereinen.
Und trotz der vielen hauchfeinen Gegenstände geht nichts zu Bruch.
Über ihnen blättert die Uhr weiterhin Seiten um und treibt Geschichten voran, die zu klein sind, um sie zu lesen.
*
Marco erinnert sich nicht daran, wann er eingeschlafen ist. Eben noch hält er Celia in den Armen, ihr Kopf liegt auf seiner Brust und er lauscht ihrem Herzschlag, und im nächsten Moment ist er allein.
Das Feuer ist nur noch glimmende Asche. Die graue Morgendämmerung fällt durch die Fenster und wirft weiche Schatten.
Auf dem Kaminsims liegt ein Silberring mit einer lateinischen Gravur auf der Herzzwei. Marco lächelt und streift sich Celias Ring über den kleinen Finger, neben der Narbe am Ringfinger.
Erst später merkt er, dass das große ledergebundene Buch auf seinem Schreibtisch verschwunden ist.
TEIL IV
FUNKENFLUG
Gewiss gibt es Zelte, die mir bei meinen zahlreichen Besuchen im Zirkus entgangen sind. Auch wenn ich sehr viel gesehen habe und zahlreiche Wege gegangen bin – immer bleiben manche Winkel unerforscht und manche Türen ungeöffnet.
– Friedrick Thiessen, 1896
Technische Details
LONDON, 1 . NOVEMBER 1901
C elia lauscht Marcos gleichmäßigem Herzschlag, in den sich das Ticken der Uhr mischt, und wünscht, sie könnte die Zeit anhalten. Sie möchte für immer in diesem Augenblick verweilen, an Marco geschmiegt, dessen Hände zärtlich über ihren Rücken streichen. Sie möchte nicht gehen müssen.
Es gelingt ihr nur, Marcos Herzschlag so zu drosseln, dass er in tiefen Schlaf fällt.
Sie könnte ihn wecken, doch draußen wird der Himmel schon hell, und sie scheut den Gedanken, sich von ihm verabschieden zu müssen.
Deshalb küsst sie ihn sanft auf die Lippen und zieht sich leise an. Sie nimmt den Ring vom Finger und legt ihn auf den Kaminsims zwischen die beiden Herzen auf der Spielkarte.
Als sie in ihren Mantel schlüpft, hält sie inne und betrachtet die auf dem Schreibtisch liegenden Bücher.
Wenn sie besser verstünde, nach welchen Methoden er vorgeht, könnte sie vielleicht mit ihrer Hilfe ein eigenständigeres Gebilde aus dem Zirkus machen. Und sich damit selbst einen Teil der Last abnehmen. Vielleicht könnten sie dann mehr als nur ein paar gestohlene Stunden zusammen sein, ohne die Spielregeln herauszufordern.
Es ist das schönste Geschenk, das sie ihm ihrer Ansicht nach machen kann, wenn sie schon von keinem ihrer Lehrmeister ein Urteil erzwingen können.
Sie nimmt das Buch mit den vielen Namen. Es scheint ihr ein guter Anfang zu sein, da sie begreift, was es leisten soll.
Nachdem Celia mit dem ledergebundenen Buch unterm Arm in den Flur geschlichen ist, schließt sie die Tür zu Marcos Wohnung so leise wie möglich. Die Schlösser rasten eins nach dem anderen gedämpft ein.
Sie bemerkt die im Schatten verborgene Gestalt erst, als sie spricht.
»Du hinterlistige kleine Schlampe«, sagt ihr Vater.
Celia schließt die Augen und versucht sich zu konzentrieren, aber es ist schon immer schwer gewesen, ihn abzuwimmeln, wenn er sie erst mal im Griff hat, und sie schafft es nicht.
»Ich staune, dass du im Flur gewartet hast, um mir das an den Kopf zu werfen, Papa«, erwidert sie.
»Diese Wohnung ist geradezu absurd gut abgesichert«, sagt Hector und gestikuliert zur Tür. »Niemand käme da hinein, wenn Marco es nicht wirklich will.«
»Gut«, sagt Celia.
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