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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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Tintenfass steht da, als wäre es nie zerbrochen gewesen.
    Marco führt sie zum benachbarten Zimmer. Er öffnet die Tür, tritt aber nicht ein, und als Celia ihm folgt, sieht sie auch den Grund dafür.
    Der Raum könnte früher ein Arbeitszimmer oder ein Salon gewesen sein, nicht sehr groß, aber durchaus gemütlich, wären da nicht die vielen Papiere und Fäden, die von jeder freien Fläche hängen.
    Fäden ziehen sich vom Lüster weiter über die Regalbretter. Sie sind ineinander verwoben wie ein von der Decke herabfallendes Netz.
    Auf jeder freien Fläche, allen Tischen und Stühlen stehen penibel gebaute Zeltmodelle. Manche aus Zeitungspapier, andere aus Stoff. Fetzen von Bauplänen und Romanen und Briefpapier, gefaltet, ausgeschnitten und zu einer Vielzahl gestreifter Zelte geformt, alle mit noch mehr schwarzem, weißem und rotem Faden verknotet. Sie sind an Uhrwerkteilen, Spiegelscherben und tropfenden Kerzenstümpfen befestigt.
    In der Mitte des Raums, auf einem runden, schwarz gestrichenen Tisch mit hellen Perlmuttstreifen, steht ein kleiner Eisenkessel, in dem ein munteres Feuer aus strahlend weißen Flammen lange Schatten auf die Wände wirft.
    Celia tritt in das Zimmer und duckt sich, um nicht die von der Decke hängenden Fäden zu berühren. Das Gefühl ist dasselbe wie beim Betreten des Zirkus, bis hin zum Karamellduft, der in der Luft schwebt, aber es geht tiefer, etwas Uraltes, Gewichtiges verbirgt sich unter dem Papier und den Fäden.
    Marco bleibt in der Tür stehen, während Celia sich vorsichtig durch das Zimmer bewegt und immer darauf achtet, dass ihr Kleid nichts streift, wenn sie in die winzigen Zelte späht und mit den Fingern behutsam über die Fadenstücke und Uhrenteile fährt.
    »Das ist sehr alte Zauberkunst, oder?«, fragt sie.
    »Es ist die einzige, die ich kenne«, erwidert Marco. Er zieht an einem Faden neben der Tür, und die Bewegung setzt sich durch den Raum fort, das gesamte Zirkusmodell funkelt, als Metallstreifen das Feuerlicht reflektieren. »Auch wenn ich meine Zweifel habe, dass sie jemals für diesen Zweck gedacht
war.«
    Celia bleibt bei einem Zelt stehen, das einen mit Kerzenwachs bedeckten Ast enthält. Sie entdeckt ein weiteres, dessen Wände mit Shakespeare-Sonetten bedruckt sind, schiebt vorsichtig die Papiertür auf und sieht einen Kreis winziger Stühle, der ihre eigene Bühne darstellt.
    Celia lässt die Papiertür zufallen.
    Am Ende ihres Rundgangs geht sie wieder zu Marco und schließt leise die Tür hinter sich.
    Kaum ist sie über die Schwelle getreten, schwindet das Gefühl, im Zirkus zu sein, und mit einem Mal wird Celia bewusst, was sich im Raum nebenan befindet. Die Wärme des Feuers, die gegen die Zugluft von den Fenstern kämpft. Der Duft von Marcos Haut unter der Tinte und seinem Rasierwasser.
    »Danke, dass du mir das gezeigt hast«, sagt sie.
    »Dein Vater würde das wohl nicht gutheißen, oder?«, fragt Marco.
    »Eigentlich interessiert es mich nicht mehr, was mein Vater gutheißt.«
    Celia schlendert am Schreibtisch vorbei zum Kamin, wo sie zusieht, wie sich die winzigen Seiten auf der Uhr durch die Zeit blättern.
    Neben der Uhr liegt eine Spielkarte. Die Herzzwei. Man sieht ihr nicht an, dass sie einmal ein Dolch aus dem osmanischen Zeitalter durchbohrt hat. Keine Spur davon, dass sie vor langer Zeit mit Celias Blut verschmiert war, aber sie weiß, es ist dieselbe Karte.
    »Ich könnte mit Alexander sprechen«, schlägt Marco vor. »Vielleicht hat er genug gesehen und kann ein Urteil fällen. Oder er disqualifiziert mich. Ich bin sicher, inzwischen hält er mich für eine Enttäuschung, er könnte dich als Siegerin be–«
    »Hör auf«, sagt Celia, ohne sich umzudrehen. »Bitte, kein Wort mehr. Ich will nicht über das verdammte Spiel reden.«
    Marco will Einspruch erheben, doch ihm versagt die Stimme. Er räuspert sich, bringt aber kein Wort heraus. Schließlich lässt er seufzend die Schultern sinken.
    »Ich bin es leid, Dinge zusammenzuhalten, die man nicht zusammenhalten kann«, sagt Celia, als er zu ihr tritt. »Zu kontrollieren, was sich nicht kontrollieren lässt. Ich bin es leid, auf Dinge zu verzichten, die ich möchte, nur aus Angst, ich könnte sie zerbrechen und nicht mehr reparieren. Egal, was wir tun, sie werden ohnehin zerbrechen.«
    Celia lehnt sich an ihn, und er nimmt sie in den Arm und streichelt ihr mit seiner tintenfleckigen Hand zärtlich den Nacken. Eine Weile stehen sie so da, neben dem prasselnden Feuer und der tickenden

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