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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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Stück zu verschlucken.
    Auf einem anderen Podest hält eine Frau zwei lange Ketten mit jeweils einer Flammenkugel am Ende. Sie schwingt sie in Schleifen und Kreisen, die leuchtende Spuren aus weißem Licht hinterlassen und sich so schnell bewegen, dass sie aussehen wie Feuerschnüre und nicht wie einzelne Flammen an Kettenenden.
    Auf vielen Podesten jonglieren Akrobaten mit Fackeln, wirbeln sie hoch in die Luft. Manchmal werfen sie einander die brennenden Fackeln in einem Funkenregen zu.
    Anderswo schlüpfen Akrobaten durch brennende Reifen auf verschiedenen Ebenen, so mühelos, als wären die Reifen nur aus Metall und stünden nicht lichterloh in Flammen.
    Die Akrobatin auf diesem Podest hält kleine Flammen in ihren bloßen Händen und macht daraus Schlangen und Blumen und alle möglichen Gestalten. Sternschnuppen versprühen Funken, Vögel flammen auf und verschwinden gleich winzigen Phönixen in ihren Händen.
    Sie lächelt dich an, während du zusiehst, wie ihre geschickten Finger aus den weißen Flammen ein Boot formen. Ein Buch. Ein Herz aus Feuer.

UNTERWEGS VON LONDON NACH MÜNCHEN, 1 . NOVEMBER 1901
    D er Zug tuckert unauffällig durch die Landschaft und stößt graue Rauchwolken in die Luft. Die Lokomotive ist fast gänzlich schwarz, die von ihr gezogenen Waggons haben die gleiche Farbe. Die mit Fenstern haben dunkel getöntes Glas, die ohne sind kohlrabenschwarz.
    Der Zug bewegt sich lautlos, ohne Pfeifen und Tuten. Die Räder auf den Gleisen quietschen nicht, sondern gleiten weich und ruhig dahin. Er fährt fast unbemerkt seine Strecke entlang und hält nirgendwo an.
    Von außen gleicht er einem Kohlenzug oder etwas Ähnlichem. Er ist völlig unscheinbar.
    Die Innenausstattung ist eine andere Sache.
    Innen ist der Zug opulent, vergoldet und warm. Die meisten Wagen sind mit dicken gemusterten Teppichen ausgelegt, die Samtpolster burgunderrot, violett und cremefarben – als wären sie in einen Sonnenuntergang getaucht worden und verharrten im Dämmerlicht in der Schwebe, bis Mitternacht und Sterne sie verblassen lassen.
    Den Korridor säumen Wandleuchter, von denen Kristalle niederregnen und sich im Takt des Zuges wiegen. Heiter und beruhigend.
    Kurz nach der Abfahrt stellt Celia das ledergebundene Buch zu ihren eigenen Bänden, offen sichtbar und vor allen Blicken sicher.
    Sie tauscht ihr blutverschmiertes Kleid gegen ein fließendes in mondhellem Grau mit schwarzen, weißen und anthrazitfarbenen Bändern, eines von Friedricks Lieblingskleidern.
    Die Bänder wehen hinter ihr her, als sie durch den Zug läuft.
    An der einzigen Tür mit zwei kalligraphierten Buchstaben und einem handgeschriebenen Namensschildchen bleibt sie stehen.
    Auf ihr höfliches Klopfen erfolgt sofort die Aufforderung einzutreten.
    Während die meisten Zugabteile vor Farbe strotzen, ist Tsukikos Privatwaggon fast völlig neutral. Ein karger Raum, umgeben von Trennwänden aus Papier und Vorhängen aus Rohseide, in dem es nach Ingwer und Balsam duftet.
    Tsukiko, die einen roten Kimono trägt, sitzt mitten im Raum auf dem Boden. Ein schlagendes purpurnes Herz in seiner fahlen Kammer.
    Aber sie ist nicht allein. Isobel liegt mit dem Kopf in Tsukikos Schoß und schluchzt leise.
    »Ich wollte nicht stören«, sagt Celia. Sie steht zögernd in der Tür und macht Anstalten, wieder zu gehen.
    »Du störst überhaupt nicht«, sagt Tsukiko und winkt sie herein. »Vielleicht kannst du mir ja helfen, Isobel zu überreden, dass sie etwas Ruhe braucht.«
    Celia sagt nichts, aber Isobel wischt sich die Augen trocken und nickt, während sie aufsteht.
    »Danke, Kiko«, sagt sie und streicht die Falten in ihrem Kleid glatt. Tsukiko bleibt sitzen, ihre Aufmerksamkeit gilt Celia.
    Isobel bleibt neben Celia stehen und sagt: »Das mit Herrn Thiessen tut mir leid.«
    »Mir auch.«
    Einen Augenblick lang glaubt Celia, dass Isobel sie gleich umarmt, doch sie nickt nur und schließt die Tür leise hinter sich.
    »Die letzten Stunden sind für uns alle lang gewesen«, sagt Tsukiko, nachdem Isobel weg ist. »Du brauchst einen Tee«, fügt sie hinzu, noch ehe Celia den Grund für ihr Kommen erklären kann. Tsukiko lässt sie auf einem Kissen Platz nehmen und verschwindet stumm hinter einer hohen Trennwand, um ihre Teeutensilien zu holen.
    Sie vollführt nicht die gesamte Teezeremonie, wie sie es bei mehreren Gelegenheiten im Laufe der Jahre getan hat, aber es ist trotzdem schön und beruhigend, mit anzusehen, wie Tsukiko zwei Schalen grünen Matcha-Tee

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