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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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den er von seinem Lehrmeister oft zur Ermahnung und Warnung gehört hatte. »Statt etwas verstehen zu wollen, tun sie es lieber als böse ab. Bedauerlich, aber wahr.«
    »Was ist das eigentlich für ein Notizbuch?«, fragt Isobel. »Ich möchte nicht aufdringlich sein, ich fand es nur interessant. Ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich darin geblättert habe.«
    »Ich durfte ja auch Ihre Tarotkarten ansehen, wir sind also quitt«, sagt er. »Aber ich fürchte, die Sache ist ziemlich kompliziert und nicht leicht zu erklären oder zu glauben.«
    »Mich wundert gar nichts mehr«, sagt Isobel. Marco schweigt darauf, betrachtet sie jedoch so konzentriert wie zuvor ihre Karten. Isobel hält seinem Blick stand.
    Ein verlockender Gedanke. Jemanden zu finden, der zumindest ansatzweise die Welt versteht, in der er fast sein ganzes Leben verbracht hat. Er weiß, er sollte es dabei belassen, aber er kann es nicht.
    »Ich könnte es Ihnen zeigen, wenn Sie wollen«, sagt er nach einer Weile.
    »O ja, gern«, sagt Isobel.
    Sie trinken den Wein aus, und Marco zahlt die Rechnung bei der Frau hinter dem Tresen. Er setzt seinen Bowlerhut auf und nimmt Isobels Arm, als sie aus dem warmen Café hinaus in den Regen gehen.
    Einen halben Block weiter bleibt Marco vor dem Tor einer großen Hofeinfahrt plötzlich stehen. Leicht zurückgesetzt vom Gehweg bilden die grauen Mauern eine gepflasterte Nische.
    »Die Stelle hier ist gut«, sagt er und führt Isobel vom Gehweg durch das Tor. Er stellt sie mit dem Rücken an die nasse kalte Wand und bleibt direkt vor ihr stehen, so nah, dass sie jeden Regentropfen an seiner Hutkrempe erkennen kann.
    »Gut wozu?«, fragt sie beunruhigt. Um sie herum regnet es immer noch, und sie haben nichts zum Unterstellen. Marco hebt beschwichtigend die Hand und konzentriert sich auf den Regen und die Wand hinter ihr.
    Er hatte noch keine Gelegenheit, dieses Kunststück auszuprobieren, und ist sich nicht sicher, ob es gelingt.
    »Vertrauen Sie mir, Miss Martin?«, fragt er und mustert sie genauso konzentriert wie vorhin im Café, allerdings sind seine Augen jetzt nur wenige Zentimeter von ihren entfernt.
    »Ja«, sagt sie ohne Zögern.
    »Gut.« Marco legt seine Hand fest über Isobels Augen.
    *
    Isobel ist vor Schreck wie versteinert. Um sie herum ist es stockfinster, sie sieht nichts mehr und spürt nur das nasse Leder auf ihrer Haut. Sie zittert, ob vor Kälte oder vom Regen, weiß sie nicht. Eine Stimme flüstert ihr Worte ins Ohr, die sie nicht kennt. Und dann hört sie den Regen nicht mehr, und die Wand in ihrem Rücken, die eben noch glatt war, fühlt sich plötzlich rau an. Die Dunkelheit wird etwas heller, und Marco senkt seine Hand.
    Isobel, deren Augen sich blinzelnd an das Licht gewöhnen, sieht Marco wieder vor sich, aber etwas ist anders. An seiner Hutkrempe hängen keine Tropfen. Nirgendwo sind mehr Tropfen zu sehen; stattdessen taucht die Sonne ihn in weiches Licht. Aber das ist es nicht, was Isobel den Atem verschlägt.
    Was ihr den Atem verschlägt, ist die Tatsache, dass sie in einem Wald stehen und sie mit dem Rücken am Stamm eines riesigen alten Baumes lehnt.
    Die Bäume sind kahl und schwarz, ihre Äste ragen weit in den tiefblauen grenzenlosen Himmel. Auf dem Boden liegt eine dünne Schneeschicht, die im Sonnenlicht glitzert und funkelt. Es ist ein herrlicher Wintertag, weit und breit ist kein Gebäude zu sehen, überall nur Schnee und Wald. Auf einem Baum in ihrer Nähe ruft ein Vogel, und in der Ferne antwortet ein zweiter.
    Isobel ist verblüfft. Alles ist echt. Sie spürt die Sonne auf ihrer Haut und die Baumrinde unter ihren Fingern. Die Kälte des Schnees ist spürbar, und sie stellt fest, dass ihr Kleid nicht mehr nass ist vom Regen. Sogar die Luft, die sie einatmet, ist eindeutig frische Landluft, ohne jede Spur vom Londoner Smog. Es kann nicht sein, aber es ist echt.
    »Das ist unmöglich«, sagt sie zu Marco. Er lächelt, und seine hellgrünen Augen funkeln in der Wintersonne.
    »Nichts ist unmöglich«, sagt er, und Isobel lacht – ein helles, glückliches Kinderlachen.
    Tausend Fragen schwirren ihr durch den Kopf, aber sie kann keine davon richtig in Worte fassen. Und dann sieht sie plötzlich das Bild einer Karte vor sich, Le Bateleur . »Sie sind ein Magier«, sagt sie.
    »Ich glaube, so hat mich noch nie jemand genannt«, entgegnet Marco. Isobel lacht wieder, und sie lacht noch immer, als er sich zu ihr beugt und sie küsst.
    Während ein leichter Wind durch die Zweige weht,

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