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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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vor zwei Jahren ziemlich modisch gewesen wäre, und ist vom Regen ganz klamm.
    Er tritt näher, aber sie bemerkt ihn nicht, so tief ist sie im Buch versunken. Sie hat sogar einen ihrer Handschuhe ausgezogen, damit sie die dünnen Seiten besser umblättern kann. Jetzt sieht er, dass es tatsächlich sein Notizbuch ist, aufgeschlagen auf einer Seite mit einer eingeklebten Karte, auf der geflügelte Wesen über ein Wagenrad kriechen. Seine Schrift überzieht die Karte und den Rest der Seite, fasst sie ein in einen einzigen dichten Text.
    Er beobachtet ihren Gesichtsausdruck, während sie, in einer Mischung aus Verwunderung und Neugierde, in dem Buch blättert.
    »Ich glaube, das ist meins«, sagt er nach einer Weile. Das Mädchen schreckt hoch, lässt das Notizbuch beinahe fallen, kann es aber noch auffangen, verliert dabei allerdings ihren Handschuh. Er bückt sich, um ihn aufzuheben, und als er sich aufrichtet und ihn ihr reicht, scheint sie von seinem Lächeln überrascht.
    »Entschuldigung«, sagt sie, nimmt den Handschuh und gibt ihm schnell das Tagebuch. »Sie haben es im Park verloren, und ich wollte es zurückgeben, aber dann waren Sie plötzlich weg, und ich … Tut mir leid.« Sie schweigt nervös.
    »Ist schon gut«, sagt er, erleichtert, das Notizbuch wiederzuhaben. »Ich hatte schon Angst, dass es ganz weg ist, was wirklich dumm gewesen wäre. Ich schulde Ihnen meinen tiefsten Dank, Miss …?«
    »Martin«, sagt sie schnell, und es klingt wie gelogen. »Isobel Martin.« Sie blickt ihn fragend an und wartet, dass auch er seinen Namen nennt.
    »Marco«, sagt er. »Marco Alisdair.« Der Name fühlt sich fremd für ihn an, denn er kommt selten in die Verlegenheit, ihn laut auszusprechen. Er hat diese Namensvariante zusammen mit einem Decknamen seines Lehrmeisters so oft geschrieben, dass er ihn als seinen eigenen empfindet, aber das Geschriebene auszusprechen ist etwas völlig anderes.
    Die Selbstverständlichkeit, mit der Isobel ihn annimmt, verleiht ihm zusätzliche Glaubwürdigkeit.
    »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Alisdair.«
    Er sollte ihr danken, sein Buch nehmen und gehen, das wäre das Vernünftigste. Doch es reizt ihn nicht sonderlich, in seine leere Wohnung zurückzukehren.
    »Darf ich Sie zum Zeichen meines Danks zu einem Getränk einladen, Miss Martin?«, fragt er und lässt das Buch in seiner Tasche verschwinden.
    Isobel zögert, denn sie weiß, dass man sich an dunklen Straßenecken besser nicht von Fremden zum Trinken einladen lässt, aber zu seiner Überraschung nickt sie.
    »O danke, wie nett.«
    »Sehr gut«, sagt Marco. »Aber es gibt bessere Cafés als dieses hier«, sagt er und deutet auf das Fenster hinter ihnen, »und gar nicht weit weg, falls Ihnen ein Spaziergang im Regen nichts ausmacht. Ich habe leider keinen Schirm dabei.«
    »Das stört mich nicht«, sagt Isobel. Marco bietet ihr seinen Arm, und sie hakt sich unter, dann gehen sie durch den Niesel die Straße entlang.
    Nach einem oder zwei Blocks biegen sie in eine schmale, dunkle Gasse, und Marco spürt ihre Anspannung, die jedoch schnell von ihr abfällt, als er vor einem hell erleuchteten Eingang neben einem Bleiglasfenster stehen bleibt. Er öffnet ihr die Tür, und sie betreten das winzige Café, das ihm im Laufe der letzten Monate schnell ans Herz gewachsen ist und wo er sich wohl fühlt wie fast nirgends sonst in London.
    Überall stehen Glashalter mit brennenden Kerzen, die Wände sind in einem frischen kräftigen Rot gestrichen. In dem gemütlichen Raum sitzen nur ein paar vereinzelte Gäste. Sie entscheiden sich für einen kleinen Tisch am Fenster. Marco winkt der Frau hinter dem Tresen, die ihnen zwei Gläser Bordeaux bringt und die Flasche auf dem Tisch neben einer kleinen Vase mit einer gelben Rose stehenlässt.
    Während der Regen leise gegen das Fenster klopft, unterhalten sie sich höflich über unbedeutende Dinge. Marco gibt kaum etwas von sich preis, und Isobel verhält sich nicht anders.
    Als er fragt, ob sie etwas essen möchte, lässt ihre höflich ausweichende Antwort durchscheinen, dass sie furchtbar hungrig ist. Er wendet sich wieder an die Frau hinter dem Tresen, die ihnen wenig später eine Platte mit Käse, Obst und geschnittenem Baguette bringt.
    »Wie haben Sie so einen Ort nur gefunden?«, fragt Isobel.
    »Durch Ausprobieren«, entgegnet er. »Und einige Gläser schrecklichen Weins.«
    Isobel lacht.
    »Sie Ärmster. Aber wenigstens hat sich die Suche gelohnt. Dieses Café ist herrlich. Wie eine

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