Der Nachtzirkus
kreisen über ihnen die beiden Vögel.
Für die Passanten auf der dunklen Straße sehen Isobel und Marco aus wie ein gewöhnliches junges Liebespaar, das sich im Regen küsst.
Falscher Schein
JULI – NOVEMBER 1884
Z auberer Prospero zieht sich ohne offizielle Erklärung von der Bühne zurück. Seine Tourneen waren in den letzten Jahren so selten geworden, dass das völlige Ausbleiben der Vorstellungen so gut wie unbemerkt bleibt.
In gewisser Weise geht Hector Bowen jedoch weiterhin auf Tournee, auch wenn Zauberer Prospero im Ruhestand ist.
Er reist von Stadt zu Stadt und verdingt seine sechzehnjährige Tochter als spirituelles Medium.
»Papa, ich hasse das«, protestiert Celia oft.
»Wenn dir etwas Besseres einfällt, um die Zeit bis zur Prüfung zu überbrücken – und sag jetzt bloß nicht Lesen –, kannst du es gerne tun, vorausgesetzt, es bringt genauso viel Geld. Außerdem ist es eine gute Übung, vor Publikum aufzutreten.«
»Die Leute sind unerträglich«, sagt Celia, obwohl sie etwas anderes meint. Sie machen sie befangen. Wie sie sie anschauen, die bittenden Blicke und tränenüberströmten Gesichter. Sie sehen sie als Sache, als Brücke zu ihren verstorbenen Liebsten, an die sie sich verzweifelt klammern.
Sie sprechen über sie, als wäre sie gar nicht im Raum, als sei sie so unwirklich wie ihre geliebten Geister. Sie muss sich beherrschen, nicht zusammenzuzucken, wenn sie ihr um den Hals fallen und schluchzend danken.
»Die Leute sind egal«, sagt ihr Vater. »Sie ahnen nicht annähernd, was sie da eigentlich sehen und hören, lieber glauben sie, dass sie Botschaften aus dem Jenseits bekommen. Warum soll man das nicht nutzen, vor allem, wenn sie für das bisschen Aufwand so freigiebig zahlen?«
Celia hält dagegen, dass sich derart schmerzhafte Erfahrungen nicht in Geld aufwiegen lassen, aber Hector lässt sich nicht umstimmen, und so reisen sie weiter, lassen Tische schweben und Geister an die Wände klopfen.
Es verblüfft sie immer wieder, wie sehr sich ihre Kunden nach Bestätigung und Antworten sehnen. Sie selbst hat noch nie mit ihrer verstorbenen Mutter sprechen wollen und weiß auch nicht, ob ihre Mutter es wollen würde, noch dazu mit Hilfe so komplizierter Methoden.
Das ist alles Lug und Trug , möchte sie ihnen am liebsten sagen. Die Toten schweben nicht in der Luft herum, sie klopfen nicht höflich an Tassen und Tische oder flüstern durch wehende Vorhänge .
Manchmal zerbricht Celia Wertgegenstände und schiebt dann die Schuld auf ruhelose Geister.
Ihr Vater gibt ihr wechselnde Namen, meistens aber nennt er sie Miranda, vermutlich weil er weiß, wie sehr sie das ärgert.
Nach einigen Monaten ist sie erschöpft vom Reisen, den Strapazen und der strengen Diät, auf die ihr Vater sie gesetzt hat, da er der Meinung ist, je ausgemergelter sie aussehe, umso geisterhafter und überzeugender sei sie.
Erst als sie bei einer Sitzung tatsächlich in Ohnmacht fällt und nicht in die wirkungsvoll einstudierte Trance, gestattet er ihr eine Auszeit zu Hause in New York.
Eines Nachmittags beim Tee, als Celia ihre Scones unter seinem missbilligenden Blick mit großen Mengen Clotted Cream und Marmelade bestreicht, teilt er ihr mit, dass er sie fürs Wochenende bei einer verzweifelten Witwe verpflichtet hat, die bereit sei, das doppelte Honorar zu zahlen.
Celia weigert sich. »Ich habe gesagt, du kriegst eine Pause«, sagt ihr Vater, ohne auch nur von den Papieren aufzublicken, die er vor sich auf dem Esstisch ausgebreitet hat. »Du hattest drei Tage frei, das sollte reichen. Du siehst gut aus. Du wirst noch mal hübscher als deine Mutter.«
»Erstaunlich, dass du dich erinnerst, wie meine Mutter ausgesehen hat«, sagt Celia.
»Ach ja?« Ihr Vater blickt zu ihr auf, und als sie nur die Augenbrauen hochzieht, sieht er sie prüfend an und setzt hinzu: »Mag sein, dass ich nur ein paar Wochen mit ihr verbracht habe, aber ich erinnere mich besser an sie als du, obwohl du fünf Jahre bei ihr warst. Zeit ist etwas Sonderbares. Das wirst du auch noch lernen.«
Er wendet sich wieder seinen Papieren zu.
»Was ist eigentlich mit dieser Prüfung, für die du mich angeblich ausbildest?«, fragt Celia. »Oder ist das auch nur eine Möglichkeit, um Geld zu verdienen?«
»Meine liebe Celia«, sagt Hector. »Du hast große Dinge vor dir, aber wann sie beginnen, liegt nicht in unserer Hand. Wir sind nicht als Erste am Zug. Man wird uns benachrichtigen, wann du dran bist.«
»Warum ist dann nicht
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