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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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würdest dich darauf konzentrieren« – sein Blickt weist streng auf die geschlossene Arbeitszimmertür – »ohne jegliche Ablenkung.«
    Er macht kehrt und geht durch den Flur nach draußen. Marco bleibt auf der Schwelle stehen und liest wieder und wieder den Namen und die Anschrift auf der verblichenen Karte.
    *
    Irgendwann erfüllt Hector Bowen seiner Tochter den langgehegten Wunsch, in New York zu bleiben, aber er tut es aus persönlichem Interesse.
    Abgesehen von gelegentlichen Ermahnungen, sie möge mehr üben, ignoriert er Celia zumeist und bleibt allein oben im
Salon.
    Celia ist mit dieser Regelung recht zufrieden und verbringt den Großteil der Zeit mit Lesen. Sie geht heimlich in Buchläden und wundert sich, wenn ihr Vater nicht fragt, woher sie die vielen neu gebundenen Bücher hat.
    Und sie übt tatsächlich, macht alles Mögliche im Haus kaputt, um es wieder zusammenzusetzen. Sie lässt Bücher wie Vögel fliegen und berechnet, wie weit sie auf diese Weise kommen können.
    Sie wird auch sehr geschickt im Umgang mit Stoff, und als sie zugenommen hat und sich in ihrem Körper wieder wohl fühlt, ändert sie ihre Kleider mit der Kunstfertigkeit eines Schneidermeisters.
    Meistens muss sie ihren Vater daran erinnern, zum Essen herunterzukommen, aber in letzter Zeit weigert er sich immer öfter und verlässt das Zimmer so gut wie gar nicht mehr.
    Heute reagiert er nicht einmal auf ihr beharrliches Klopfen. Sie tritt wütend gegen die Tür, weil sie weiß, dass er die Schlösser verzaubert hat und man sie ohne seine Schlüssel nicht öffnen kann, aber zu ihrer großen Überraschung geht sie auf.
    Ihr Vater steht am Fenster und betrachtet aufmerksam seine ausgestreckte Hand, während das Sonnenlicht durch die Milchglasscheibe auf seinen Ärmel fällt.
    Seine Hand verschwindet vollständig und taucht dann wieder auf. Er streckt die Finger aus und registriert missmutig das hörbare Knacken der Gelenke.
    »Papa, was machst du da?«, fragt Celia, deren Neugierde stärker ist als ihr Ärger. So etwas hat er bisher noch nie gemacht, weder auf der Bühne noch im Unterricht.
    »Nichts, womit du dich befassen müsstest«, sagt ihr Vater und zieht die rüschenbesetzte Manschette über seine Hand.
    Dann schlägt die Tür vor ihrer Nase zu.

Zielübungen
    LONDON, DEZEMBER 1884
    D ie Zielscheibe hängt wackelig an einer Wand im Arbeitszimmer, zwischen hohen Bücherschränken und Ölgemälden in kunstvollen Rahmen. Trotz der grellen Farben ist sie durch die Schatten gut getarnt, aber das Messer erreicht bei jedem Wurf sein Ziel und trifft in das von einem Zeitungsausschnitt verdeckte Schwarze.
    Bei dem Ausschnitt handelt es sich um eine Theaterkritik, einen ordentlich aus der Londoner Times ausgeschnittenen Artikel. Es ist eine positive Kritik, manche würden vielleicht sogar von begeistert sprechen. Trotzdem hängt sie dort, um von einem Messer mit silbernem Griff durchlöchert und vernichtet zu werden. Die Klinge durchtrennt das Papier und sinkt in den Kork der Zielscheibe. Es wird nur herausgezogen, um den Vorgang zu wiederholen.
    Der Mann, der das Messer immer wieder so elegant wirft, dass es auf dem Weg ins Ziel perfekt rotiert, heißt Chandresh Christophe Lefèvre, und sein Name steht deutlich lesbar in der letzten Zeile jenes Artikels.
    Es ist vor allem der Satz mit seinem Namen, der ihn bis zum Messerwerfen erzürnt hat. Ein einziger Satz mit folgendem Wortlaut: »M. Chandresh Christophe Lefèvre setzt weiterhin neue Maßstäbe für die moderne Bühnenkunst und verzaubert sein Publikum mit einem fast schon übersinnlichen Spektakel.«
    Den meisten Theaterproduzenten würde eine solche Bemerkung vermutlich schmeicheln. Sie würden den Artikel für ein Sammelalbum mit Kritiken ausschneiden und ihn als Empfehlung zitieren.
    Nicht so dieser Theaterproduzent. Nein, M. Chandresh Christophe Lefèvre versteift sich stattdessen auf das viertletzte Wort. Fast. Fast .
    Wieder fliegt das Messer durch den Raum, über Samtmöbel und aufwendig geschnitztes Holz, und schrammt gefährlich nah an einer Kristallkaraffe mit Brandy vorbei. Es überschlägt sich kurz, Griff über Klinge, und bohrt sich abermals in die Scheibe. Diesmal durchdringt es das mittlerweile stark zerfetzte Papier zwischen den Worten »Publikum« und »Spektakel«; vom »mit« ist nichts mehr übrig.
    Chandresh geht zum Messer und zieht es vorsichtig, aber entschlossen aus der Scheibe. Er durchquert wieder den Raum, Messer in der einen Hand, ein Glas Brandy in
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