Der Nachtzirkus
fügt sie hinzu, als sie den nächsten Vorhang erreichen. Sie zieht ihn zur Seite, und der Raum wird mit gleißendem Licht vom Platz überflutet. Sie winkt Marco nach draußen in den Regen und nimmt einen weiteren Zug von ihrer Zigarette, während er gehorsam durch den offenen Vorhang geht und versucht, aus ihrer letzten Bemerkung schlau zu werden.
Die Lichter an den Zelten sind dunkel, aber das Feuer in der Platzmitte brennt leuchtend hell und weiß. Der leichte Regen rings um die Flammen glitzert.
»Sehr schön«, sagt Tsukiko und tritt mit ihm auf den Platz. »Das muss ich dir lassen.«
»Sie waren eine Schülerin von Alexander?« Marco ist nicht sicher, ob er sie richtig verstanden hat.
Tsukiko nickt.
»Ich war es leid, mir Notizen in Büchern zu machen, und fing deshalb an, mir alles auf den Körper zu schreiben. Ich mache mir nicht gern die Hände schmutzig«, sagt sie und zeigt auf seine tintenfleckigen Finger. »Ich staune, dass er mit einem so offenen Schauplatz für diese Herausforderung einverstanden war. Sonst hat er immer Abgeschlossenheit bevorzugt. Vermutlich ist er nicht sehr glücklich über die Entwicklung des Ganzen.«
Marco fällt auf, dass die Schlangenfrau vollkommen trocken ist. Jeder Regentropfen verdunstet augenblicklich zu zischendem Dampf, sobald er sie berührt.
»Sie haben das letzte Spiel gewonnen.«
»Ich habe das letzte Spiel überlebt«, verbessert Tsukiko ihn.
»Wann war das?«, fragt Marco, während sie in Richtung Feuer laufen.
»Vor dreiundachtzig Jahren, sechs Monaten und einundzwanzig Tagen. Ein Kirschblütentag.«
Tsukiko nimmt einen langen Zug von ihrer Zigarette, bevor sie fortfährt.
»Unsere Lehrmeister verstehen nicht, wie es ist, auf eine solche Weise an jemanden gebunden zu sein. Sie sind zu alt, ohne Kontakt zu ihren Gefühlen. Sie erinnern sich nicht mehr daran, was es heißt, in der Welt zu leben und zu atmen. Sie halten es für ein Leichtes, zwei Menschen gegeneinander aufzustellen. Dabei ist es nie leicht. Der andere gibt dir vor, wie du dein Leben bestimmst, wie du dich selbst bestimmst. Mit der Zeit brauchst du das so sehr wie die Luft zum Atmen. Dann erwarten sie, dass der Sieger ohne das weiterlebt. Das ist, als würde man die Murray-Zwillinge auseinanderreißen und dann erwarten, dass sie dieselben bleiben. Sie wären zwar unversehrt, aber nicht vollkommen. Du liebst sie, oder?«
»Mehr als alles auf der Welt«, sagt Marco.
Tsukiko nickt nachdenklich.
»Meine Gegnerin hieß Hinata«, sagt sie. »Ihre Haut roch nach Ingwer und Balsam. Ich habe sie auch mehr als alles auf der Welt geliebt. An jenem Kirschblütentag hat sie sich selbst verbrannt. Sie hat eine Flammensäule entzündet und ist in sie hineingetreten, als wäre es Wasser.«
»Das tut mir leid«, sagt Marco.
»Danke«, erwidert Tsukiko mit einem Hauch ihres normalerweise strahlenden Lächelns. »Genau das will Miss Bowen für dich tun. Damit du gewinnst.«
»Ich weiß.«
»Ich wünsche niemandem solche Schmerzen. Nur um Sieger zu sein. Hinata hätte das phantastisch gefunden«, sagt Tsukiko, als sie das Feuer erreichen und die züngelnden Flammen im zunehmenden Regen betrachten. »Sie mochte Feuer sehr gern. Mein Element war immer Wasser. Bevor es passiert ist.«
Sie streckt die Hand aus und betrachtet die Regentropfen, die nicht auf ihre Haut treffen wollen.
»Kennst du die Geschichte vom Zauberer im Baum?«, fragt sie.
»Die Merlin-Geschichte?«, fragt Marco. »Ich kenne mehrere Versionen.«
»Es gibt viele«, sagt Tsukiko und nickt. »Alte Geschichten haben es an sich, dass sie immer wieder neu erzählt und verändert werden. Jeder Erzähler drückt ihnen seinen oder ihren Stempel auf. Was die Geschichte ursprünglich an Wahrheiten enthalten haben mag, wird von Vorlieben und Beschönigungen zugedeckt. Die Gründe dafür sind nicht so wichtig wie die Geschichte selbst.«
Der Regen nimmt weiterhin zu und prasselt nieder, während sie fortfährt.
»Manchmal ist es eine Höhle, aber mir gefällt die Version mit dem Baum. Vielleicht ist ein Baum romantischer.«
Sie nimmt die noch immer brennende Zigarette aus der Spitze und hält sie behutsam zwischen ihren grazilen Fingern.
»Es gibt hier zwar viele Bäume, die man zu diesem Zweck verwenden könnte«, sagt sie, »aber ich dachte, das Feuer wäre vielleicht eher geeignet.«
Marco wendet seine Aufmerksamkeit dem Feuer zu. In seinem Licht glitzern die fallenden Regentröpfchen wie Schnee.
In allen ihm bekannten Versionen der
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