Der Feind
1
LANGLEY, VIRGINIA
Rapp stand vor dem Schreibtisch seiner Chefin. Sie hatte ihm einen Sessel angeboten, doch er zog es vor, stehen zu bleiben. Die Sonne war bereits untergegangen, es war schon spät, und er wäre lieber zu Hause bei seiner Frau gewesen – doch diese Sache musste er noch erledigen. Die Akte war zweieinhalb Zentimeter dick. Die Sache war ihm ziemlich lästig, und er wollte sie endlich vom Schreibtisch haben, damit er sich anderen Dingen zuwenden konnte.
Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn Irene Kennedy sich damit begnügt hätte, die Zusammenfassung zu lesen und ihm die Akte zurückzugeben – aber das war nicht unbedingt ihre Art. Man schaffte es nicht als erste Frau an die Spitze der CIA, wenn man es sich immer leicht machte. Dr. Kennedy hatte ein fotografisches Gedächtnis und einen messerscharfen Verstand. Sie glich einem dieser Supercomputer, die die großen Versicherungsgesellschaften im Keller stehen haben und die Tag für Tag Millionen von Daten und Fakten analysieren. Irene Kennedys Fähigkeit, eine bestimmte Situation zu erfassen, war unübertrefflich. Sie speicherte alle Informationen, die gesammelt wurden, einschließlich der heiklen Dinge, die nie an die Öffentlichkeit gelangten, wie zum Beispiel jene Akte, die sie nun auf dem Schreibtisch liegen hatte.
Rapp sah zu, wie sie das Dossier eilig durchblätterte und gelegentlich zu einer Stelle zurückging, die ihr nicht ganz schlüssig erschien. Er war sich bewusst, dass sein Bericht die eine oder andere Ungereimtheit enthielt, aber dieser Papierkram war nicht gerade sein Spezialgebiet. Seine Fähigkeiten waren eher am anderen Ende ihres Geschäfts angesiedelt. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte sie seine Berichte mit dem Rotstift in der Hand gelesen und jede Menge Korrekturen angebracht – doch das sparte sie sich diesmal. Die vorliegende Akte barg einigen Zündstoff in sich – Material, das brisant genug war, um jede Menge Karrieren zu ruinieren. Irene Kennedy wusste schon, was es geschlagen hatte, wenn Rapp früh am Morgen oder spätabends in ihrem Büro auftauchte und darauf verzichtete, Platz zu nehmen. In einem solchen Fall war es besser, den Rotstift gar nicht erst zur Hand zu nehmen. Sie wusste genau, was er wollte, und so las sie den Bericht, ohne etwas zu sagen.
Irene Kennedy wollte Angelegenheiten dieser Art stets noch einmal überdenken, bevor sie eine Entscheidung traf. Das war zwar nicht nach Rapps Geschmack – er musste jedoch zugeben, dass sie besser als er imstande war, die Dinge in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Außerdem war sie der Boss, und es war letztlich ihr zierlicher Hals, der unter das Fallbeil kam, wenn etwas schiefging. Falls sie ins Visier geriet, würde Rapp nicht zögern, sich in die Schusslinie zu stellen, doch die Aasgeier der Washingtoner Politik würden auch ihren Kopf fordern. Rapp respektierte sie, was bei ihm durchaus keine Selbstverständlichkeit war. Er war ein Einzelkämpfer. Er war dazu ausgebildet, unabhängig zu operieren und mitten im Kampfgebiet ganz allein zu überleben – und das für Monate, wenn es sein musste. Für so manchen wäre diese Arbeit absolut nervenaufreibend gewesen, doch Rapp genoss es geradezu, ganz auf sich allein gestellt zu sein. Draußen in den Krisenherden der Welt gab es keinen Papierkram zu erledigen und niemanden, der ihm über die Schulter schaute. Dort gab es keine Bürokraten, die jedes Risiko scheuten und jeden seiner Schritte kritisierten. Dort war er völlig unabhängig. Sie hatten ihn dazu ausgebildet, dass er genau so vorging, und jetzt mussten sie sich auch mit ihm abfinden.
Typen wie Mitch Rapp waren nicht sonderlich gut darin, Befehle entgegenzunehmen, vor allem nicht von Leuten, die sie nicht respektierten. Zum Glück genoss Irene Kennedy seinen Respekt, und sie verfügte auch über die Macht, gewisse Dinge durchzusetzen oder, so wie in diesem Fall, einfach wegzuschauen, während er die Sache in die Hand nahm. Mehr wollte Rapp gar nicht – ja, so war es ihm sogar am liebsten. Er brauchte nicht ihren Segen und grünes Licht für die Mission – es genügte ihm völlig, wenn sie ihm die Akte zurückgab, gute Nacht sagte und ihn einfach machen ließ.
Rapp hatte seine Leute bereits auf die Sache vorbereitet. Er konnte sich gleich am nächsten Morgen mit ihnen treffen und die Angelegenheit binnen zwölf Stunden erledigen, wenn nichts dazwischenkam – und in diesem Fall sollte es eigentlich keine unliebsamen Überraschungen geben. Der Mann, um den
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