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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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tritt näher an das Schild heran, und sobald er es gelesen hat, weiß er, um welches Zelt es sich handelt.
    Furchterregende Tiere und seltsame Geschöpfe
    Wunder aus Dunst und Papier
    »Kommen Sie mit mir?«, fragt Bailey.
    »Nein«, sagt Tsukiko. »Ich bin nur eine Abgesandte, schon vergessen? Du findest mich auf dem Platz, falls du mich brauchst.«
    Sie nickt ihm höflich zu und geht denselben Weg zurück, den sie gekommen sind. Als Bailey ihr nachsieht, fällt ihm auf, dass an ihren Stiefeln kein Schlamm haftet.
    Dann verschwindet sie um eine Ecke, und Bailey tritt in das Zelt.

Funkenflug
    NEW YORK, 31 . OKTOBER 1902
    M arco schlägt mit dem Rücken auf dem Boden auf, als wäre er grob geschubst worden. Vom Aufprall und der Aschenwolke um ihn herum muss er husten.
    Im Aufstehen bemerkt er, dass ein leichter Regen fällt, und als sich die Luft um ihn herum klärt, sieht er eine Reihe winziger Bäume und Sterne, umgeben von silbrigen Zahnrädern und schwarzweißen Schachfiguren.
    Erst nach einer Weile dämmert ihm, dass er neben der Wunschtraumuhr steht.
    Sie tickt auf Mitternacht zu, der Harlekin-Jongleur balanciert elf Kugeln zwischen den funkelnden Sternen und sich drehenden Teilchen.
    Das Schild, das die Schließung des Zirkus aufgrund Schlechtwetters verkündet, klappert im Wind. Im Augenblick allerdings ist der Regen nicht viel mehr als ein dichter Nebel.
    Marco reibt sich das schimmernde Pulver aus dem Gesicht, das wieder seine eigentliche Form angenommen hat; er ist zu verwirrt, um es zu ändern. Er versucht, die dunkle Asche auf seinem Anzug genauer zu betrachten, die aber bereits wieder verblasst.
    Der gestreifte Vorhang hinter dem Kassenhäuschen ist geöffnet, und durch den Dunst erkennt Marco eine Gestalt, erhellt vom scharfen Aufblitzen eines Feuerzeugs.
    » Bon soir «, sagt Tsukiko fröhlich, als er näher tritt. Sie steckt das Feuerzeug wieder in die Tasche und hält ihre Zigarette in der langen silbernen Spitze. Ein Windstoß fegt über den Platz und rüttelt am Zirkustor.
    »Wie … wie hat sie das gemacht?«, fragt Marco.
    »Du meinst Isobel?«, erwidert Tsukiko. »Diesen speziellen Trick habe ich ihr beigebracht. Ich glaube zwar nicht, dass sie die Feinheiten verstanden hat, aber mir scheint, er ist ihr trotzdem gut gelungen. Fühlst du dich irgendwie wackelig?«
    »Mir geht es gut«, sagt Marco, obwohl ihm der Rücken von dem Sturz weh tut und seine Augen noch brennen. Er betrachtet Tsukiko interessiert. Er hat sich noch nie länger mit der Schlangenfrau unterhalten, und ihre Anwesenheit ist fast so verwirrend wie die Tatsache, dass er noch vor kurzem an einem völlig anderen Ort war.
    »Komm doch wenigstens aus dem Wind.« Tsukiko winkt ihn mit ihrer freien Hand in den Tunnel. »Das Gesicht gefällt mir besser als das andere«, sagt sie und mustert ihn durch Dunst und Rauch. »Es passt zu dir.« Sobald er eingetreten ist, lässt Tsukiko den Vorhang fallen, und sie stehen umfangen von Dunkelheit und glimmenden Lichtern. Die glühende Spitze ihrer Zigarette ist der einzige Farbfleck unter den weißen Punkten.
    »Wo sind die anderen alle?«, fragt Marco und schüttelt den Regen von seinem Bowlerhut.
    »Bei der Schlechtwetterparty«, erklärt Tsukiko. »Sie findet traditionell im Akrobatenzelt statt, weil es das größte ist. Aber das kannst du nicht wissen, da du nicht wirklich zur Kompanie gehörst, oder?«
    Er kann ihren Gesichtsausdruck nicht genau erkennen, aber etwas sagt ihm, dass sie breit grinst.
    »Nein, ich gehöre nicht dazu«, sagt er und folgt ihr. Sie geht durch den Tunnel, der in verwirrenden Windungen immer tiefer in den Zirkus führt. »Warum bin ich hier?«, fragt er.
    »Darauf kommen wir zu gegebener Zeit zurück«, sagt sie. »Was hat Isobel dir erzählt?«
    Marco hat die Unterhaltung mit Isobel vor seinem Haus fast schon vergessen, obwohl sie erst vor kurzem stattgefunden hat. Er erinnert sich nur bruchstückhaft daran. Nichts davon lässt sich sinnvoll in Worte fassen.
    »Egal«, sagt Tsukiko, als er nicht sogleich antwortet. »Nach einer solchen Reise dauert es manchmal, bis man seine fünf Sinne wieder beisammenhat. Hat sie dir gesagt, dass wir etwas gemeinsam haben?«
    Marco erinnert sich, dass Isobel Celia erwähnt hat und noch jemanden, aber nicht genau, wen.
    »Nein«, sagt er.
    »Wir sind beide Schüler desselben Lehrmeisters«, sagt Tsukiko. Das Ende ihrer Zigarette glüht im Dunkel auf, als sie inhaliert. »Ich fürchte, wir sind nur vorübergehend geschützt«,

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