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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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wartet.
    Aber die Gestalt, die neben dem verschnörkelten Kessel steht, ist nicht Poppet. Diese Frau ist zu klein, ihr Haar zu dunkel. Als sie sich umdreht, sieht er eine lange silberne Zigarettenspitze zwischen ihren Lippen, und der Rauch ringelt sich um ihren Kopf wie Schlangen.
    Es dauert eine Weile, bis er die Schlangenfrau erkennt, die er bisher immer nur auf einem Podest in unmöglich verrenkten Positionen gesehen hat.
    »Du bist Bailey, stimmt’s?«, sagt sie.
    »Ja«, antwortet Bailey und fragt sich, ob denn wirklich jeder im Zirkus weiß, wer er ist.
    »Du kommst zu spät«, sagt die Schlangenfrau.
    »Zu spät wofür?«, will Bailey verwirrt wissen.
    »Ich glaube nicht, dass sie noch sehr viel länger durchhalten kann.«
    »Wer?«, fragt Bailey, auch wenn ihm der Gedanke durch den Kopf geht, die Schlangenfrau könnte den Zirkus meinen.
    »Es ist natürlich möglich«, fährt sie fort, »dass sich alles anders abgespielt hätte, wenn du früher gekommen wärst. Den richtigen Zeitpunkt abzupassen ist eine heikle Sache.«
    »Wo ist Poppet?«, fragt Bailey.
    »Miss Penelope ist zurzeit verhindert.«
    »Warum weiß sie nicht, dass ich hier bin?«
    »Womöglich weiß sie das sehr wohl, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie zurzeit, wie ich schon sagte, verhindert
ist.«
    »Wer sind Sie?«, fragt Bailey. Inzwischen pocht seine Schulter, und er könnte nicht genau sagen, seit wann das alles keinen Sinn mehr ergibt.
    »Du kannst mich Tsukiko nennen«, sagt die Schlangenfrau und zieht lange an ihrer Zigarette.
    Hinter ihr thront hohl und reglos das riesige Gefäß aus schmiedeeisernen Schnörkeln. Der Boden ringsum, gewöhnlich mit einem spiralförmigen schwarzweißen Muster bemalt, ist nun ganz dunkel, wie von leerem Raum verschluckt.
    »Ich dachte, das Feuer geht niemals aus«, sagt Bailey und tritt näher heran.
    »Ist es auch bisher noch nicht«, erwidert Tsukiko.
    Als Bailey den Rand der noch immer heißen Eisenschnörkel erreicht, stellt er sich auf die Zehenspitzen und späht hinein. Der Kessel ist fast bis zum Rand mit Regenwasser gefüllt, die dunkle Oberfläche kräuselt sich im Wind. Der Boden unter seinen Füßen ist schwarz und schlammig, und als er einen Schritt zurückgeht, tritt er versehentlich gegen einen Bowlerhut.
    »Was ist passiert?«, fragt Bailey.
    »Das ist nicht so leicht zu erklären«, antwortet Tsukiko. »Eine lange und komplizierte Geschichte.«
    »Und Sie wollen sie mir nicht erzählen?«
    Sie neigt den Kopf leicht zur Seite, und Bailey sieht den Hauch eines Lächelns um ihre Lippen.
    »Nein, will ich nicht.«
    »Na, großartig«, murmelt Bailey leise.
    »Wie ich sehe, trägst du nun auch das Abzeichen«, sagt Tsukiko und zeigt mit ihrer Zigarette auf seinen roten Schal. Bailey weiß nicht so recht, wie er darauf reagieren soll, aber sie fährt fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Ich nehme an, man könnte von einer Explosion sprechen.«
    »Das Feuer ist explodiert? Wie das?«
    »Sagte ich nicht eben, es sei nicht leicht zu erklären? Daran hat sich nichts geändert.«
    »Warum sind die Zelte nicht abgebrannt?«, fragt Bailey und blickt auf die scheinbar endlosen Streifen. Einige der näher gelegenen Zelte sind mit Schlamm bespritzt, aber trotz der verkohlten Erde ringsum ist keines verbrannt.
    »Das war Miss Bowens Werk«, sagt Tsukiko. »Ohne diese Vorsichtsmaßnahme wäre der Schaden vermutlich viel größer gewesen.«
    »Wer ist Miss Bowen?«, fragt Bailey.
    »Du stellst eine Menge Fragen«, erwidert Tsukiko.
    »Sie beantworten nicht sehr viele davon«, gibt Bailey zurück.
    Das Lächeln nimmt nun ihr ganzes Gesicht ein, auf eine Weise, die Bailey fast schon verstörend freundlich findet.
    »Ich bin nur eine Abgesandte«, sagt Tsukiko. »Ich soll dich zu einem Treffen begleiten, bei dem vermutlich genau solche Angelegenheiten zur Sprache kommen werden, denn im Augenblick bin ich die einzige lebende Person, die auch nur annähernd über das Geschehene und den Grund für deine Anwesenheit Bescheid weiß. Deine Fragen hebst du dir besser für jemand anderen auf.«
    »Und wer soll das sein?«, fragt Bailey.
    »Das wirst du sehen«, sagt Tsukiko. »Komm hier entlang.«
    Sie winkt ihn zu sich, führt ihn um das erloschene Feuer auf die andere Seite des Platzes und von dort ein kurzes Stück durch einen Verbindungsweg voller Schlamm, der in dicken Batzen an Baileys ehemals glänzenden Schuhen kleben bleibt.
    »Wir sind da.« Tsukiko bleibt vor einem Zelteingang stehen. Bailey

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