Der Nachtzirkus
Karten legte.«
»Warum erzählst du mir das?«, fragt Marco.
»Weil ich dachte, er hätte dich retten können. Ich wusste nicht, wie ich dazu stehen sollte, weiß es immer noch nicht. Es stand in seinen Karten, zusammen mit allem anderen, so klar und deutlich wie noch nie. In dem Moment dachte ich, das Ganze würde anders enden. Ich habe mich geirrt. Offenbar irre ich mich ziemlich oft. Vielleicht wird es Zeit, dass ich mir eine neue Beschäftigung suche.«
Marco ist wie erstarrt, sein Gesicht wird im Lampenlicht kreidebleich.
»Was hast du da gesagt?«, fragt er.
»Ich habe gesagt, dass du eine Chance hattest. Eine Chance, bei ihr zu sein. Eine Chance, dass sich alles von allein zum Guten wendet. Ich möchte immer noch, dass du glücklich bist. Und die Möglichkeit war da.« Sie lächelt ihn traurig an und greift in ihre Tasche. »Aber es ist nicht der richtige Zeitpunkt.«
Sie zieht die Hand aus der Tasche und öffnet die Finger. In ihrer Hand liegt ein Häufchen funkelnder schwarzer Kristalle, fein wie Asche.
»Was ist das?«, fragt Marco, als sie die Hand an die Lippen hebt.
Als Antwort bläst Isobel vorsichtig in die Asche, die Marco in einer beißenden schwarzen Wolke umfliegt.
Als der Staub sich legt, steht Marcos Aktentasche herrenlos auf dem Gehsteig zu ihren Füßen. Isobel nimmt sie und geht.
Nachwirkung
NEW YORK, 1 . NOVEMBER 1902
T rotz der veränderten Umgebung sieht der Zirkus genauso aus wie auf seiner Wiese zu Hause, denkt Bailey, als er schließlich den Zaun erreicht, mit Seitenstechen und keuchend vom Laufen durch eine Gegend, die eher Wald ist als Wiese.
Aber noch etwas ist anders. Es dauert eine Weile, bis er am Tor stehend wieder normal atmet und das Schild
Wegen schlechten Wetters geschlossen
liest, das über dem normalen Schild mit den Öffnungszeiten hängt.
Es ist der Geruch, stellt er fest. Nicht der Duft nach Karamell, der sich sonst so wohltuend mit dem holzigen Rauch eines wärmenden Feuers vermischt, sondern der schwere Geruch von etwas Verbranntem und Nassem, mit einem widerlich süßen Beigeschmack.
Ihm wird übel davon.
Kein Laut dringt aus dem Inneren des Eisenzauns. Die Zelte stehen reglos da. Nur die Uhr jenseits des Tors tickt langsam durch die Nachmittagsstunden.
Bailey merkt schnell, dass er nicht mehr so mühelos durch die Gitterstäbe schlüpfen kann wie damals mit zehn. Die Zwischenräume sind zu eng, egal, wie er die Schultern dreht und wendet. Eigentlich hat er halbwegs damit gerechnet, dass Poppet da sein und auf ihn warten würde, aber keine Menschenseele ist in Sicht.
Der Zaun ist zu hoch, um darüberzuklettern, und Bailey überlegt, ob er sich einfach vors Tor setzen und bis Sonnenuntergang warten soll, als er einen gebogenen Ast entdeckt, der zwar nicht ganz, aber ziemlich dicht bis zum Zaun reicht und über den verschnörkelten Eisenspitzen hängt.
Von dort aus könnte er springen. Wenn er den richtigen Winkel erwischt, landet er auf einem Pfad zwischen den Zelten. Wenn er den falschen Winkel erwischt, bricht er sich wahrscheinlich das Bein, aber das wäre nur ein kleineres Problem, mit dem er leben könnte, denn dann wäre er zumindest schon mal im Zirkus.
Der Baum ist leicht zu erklettern und der dem Zirkus nächste Ast breit genug. Aber Bailey tut sich schwer, das Gleichgewicht zu halten, und was als eleganter Sprung gedacht war, ähnelt eher einem eingeplanten Sturz. Er landet schwerfällig auf dem Pfad, kullert gegen eine Zeltseite und bekommt jede Menge von dem weißen Pulver auf dem Boden ab.
Seine Beine tun weh, scheinen aber in Ordnung zu sein, allerdings hat er sich die Schulter arg geprellt, und seine Handflächen sind schlimm verschrammt und voller Dreck und Pulver. Von den Händen lässt sich das Pulver problemlos abwischen, am Mantel und an den Beinen seiner neuen Hose dagegen klebt es wie Farbe. Und jetzt steht er wieder allein im Zirkus.
»Wahrheit oder Pflicht«, flüstert er vor sich hin.
Trockenes, brüchiges Laub, das der Wind durch den Zaun weht, tanzt um seine Füße. Das Schwarzweiß des Zirkus wird von Tupfen gedämpfter Herbstfarben durchbrochen.
Bailey weiß nicht, wohin er gehen soll. Er wandert die Wege entlang und rechnet hinter jeder Ecke mit Poppet, steht aber immer nur vor Streifen und Leere. Schließlich geht er in Richtung des großen Platzes, zum Feuer.
Als er um die Ecke biegt, liegt der Platz vor ihm, und das Feuer ist aus. Das überrascht ihn mehr als die Feststellung, dass offenbar doch jemand auf ihn
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