Der Nachtzirkus
Merlin-Geschichte wird der Zauberer gefangen gesetzt. In einem Baum, einer Höhle oder einem Stein.
Immer als Strafe, als Folge einer törichten Liebe.
Er sieht wieder zu Tsukiko.
»Du verstehst«, sagt sie, bevor er ein Wort herausbringt.
Marco nickt.
»Das wusste ich«, sagt sie. Das Licht von den weißen Flammen erhellt ihr Lächeln durch den Regen.
»Was machst du da, Tsukiko?«, ruft eine Stimme hinter ihr.
Celia steht am Rand des Platzes. Ihr Mondscheinkleid ist von der Nässe schmutzig grau verfärbt, die kreuz und quer verlaufenden Bänder flattern schwarzweißgrau hinter ihr her und verheddern sich im Wind mit ihren Haaren.
»Geh wieder zu der Party zurück, meine Liebe«, sagt Tsukiko und steckt die silberne Zigarettenspitze in ihre Tasche. »Bei dem, was jetzt kommt, möchtest du bestimmt nicht dabei sein.«
»Wobei?«, sagt Celia und starrt Marco an.
»Seit Jahren«, sagt Tsukiko an beide gewandt, »bin ich von Liebesbriefen umgeben, die ihr füreinander geschaffen habt, eingeschlossen in Zelte. Das erinnert mich daran, wie es damals mit ihr war. Es ist wunderschön und schrecklich zugleich. Ich bin noch nicht bereit, es aufzugeben, aber ihr lasst es verblassen.«
»Du hast gesagt, die Liebe sei launisch und vergänglich«, sagt Celia verwirrt.
»Das war eine Lüge«, sagt Tsukiko und rollt ihre Zigarette zwischen den Fingern. »Ich dachte, es wäre leichter, wenn du an ihm zweifelst. Und ich habe dir ein Jahr gegeben, um eine Möglichkeit zu finden, wie der Zirkus ohne dich weiter besteht. Das ist dir nicht gelungen. Ich greife ein.«
»Aber ich versu–«, setzt Celia an, doch Tsukiko fällt ihr ins Wort.
»Du übersiehst ständig eine schlichte Tatsache«, sagt sie. »Du trägst diesen Zirkus in dir. Dein Gegner benutzt das Feuer als Werkzeug. Du bist der größere Verlust, aber zu egoistisch, um es zuzugeben. Du glaubst, du könntest mit dem Schmerz nicht leben. Mit einem solchen Schmerz lebt man nicht. Man kann ihn nur aushalten. Tut mir leid.«
»Kiko, bitte«, sagt Celia. »Ich brauche mehr Zeit.«
Tsukiko schüttelt den Kopf.
»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass die Zeit nicht meiner Kontrolle untersteht.«
Marco, der Celia seit ihrem Erscheinen auf dem Platz nicht aus den Augen gelassen hat, dreht sich jetzt von ihr weg.
»Nur zu«, sagt er zu Tsukiko, brüllt es über das Prasseln des Regens hinweg. »Mach schon! Ich würde lieber an ihrer Seite verbrennen, als ohne sie zu leben.«
Celias »Nein«, das vielleicht nur ein simpler Ausruf war, wird vom Wind zu einem markerschütternden Schrei verzerrt. Die Qual in ihrer Stimme durchdringt Marco wie alle Klingen in Chandreshs Sammlung zusammengenommen, aber er konzentriert sich weiter auf die Schlangenfrau.
»Das Spiel wäre dann zu Ende, ja?«, fragt er. »Das Spiel wäre zu Ende, auch wenn ich nur im Feuer gefangen und nicht tot bin.«
»Du kannst dann nicht mehr weiterspielen«, sagt Tsukiko. »Und nur darauf kommt es an.«
»Dann tu es«, sagt Marco.
Tsukiko lächelt ihm zu. Sie legt die Hände zusammen, Rauchkringel von ihrer Zigarette steigen über ihre Finger empor. Dann verbeugt sie sich tief und respektvoll vor ihm.
Keiner der beiden sieht, wie Celia durch den Regen zu ihnen rennt.
Tsukiko schnippt die weiterhin glimmende Zigarette in Richtung Feuer.
Sie fliegt noch immer durch die Luft, als Marco Celia zuruft, sie solle stehen bleiben.
Celia wirft sich in seine Arme, kaum dass die Zigarette die flackernden weißen Flammen berührt hat.
Marco weiß, dass ihm keine Zeit mehr bleibt, um Celia noch fortzuschieben, deshalb zieht er sie an sich und vergräbt sein Gesicht in ihrem Haar; der Wind reißt ihm den Bowlerhut vom Kopf.
Und dann setzt der Schmerz ein. Scharfer, beißender Schmerz, als würde er entzweigerissen.
»Vertrau mir«, flüstert Celia ihm zu, und er kämpft nicht länger dagegen an, vergisst alles außer ihr.
Im Augenblick vor der Explosion, bevor das weiße Licht zu grell wird, um das Geschehen genau zu erkennen, lösen sie sich in Luft auf. Eben noch sind sie da, Celia mit ihrem Kleid, das im Wind und Regen flattert, Marcos Hände auf ihrem Rücken, und im nächsten Moment ist nur noch ein verschwommener Fleck aus Licht und Schatten von ihnen übrig.
Dann sind sie beide verschwunden, und der Zirkusplatz steht in Flammen, die an den Zelten züngeln und in den Regen emporsteigen.
Tsukiko steht allein auf dem Platz und seufzt. Die Flammen wirbeln in einem Strudel an ihr vorbei, ohne sie zu
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