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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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wie er sich entscheidet. »Wahrheit« wäre eine ergebene Antwort, mit der er sich Carolines gewaltsamer, um Eichelgeschosse erweiterter Variante des Spiels fügen würde. »Pflicht« ist eine Spur trotziger: Er tut ihr den Gefallen mitzuspielen, aber wenigstens ist er kein Feigling.
    Offenbar war es die richtige Antwort, denn Caroline stutzt einen Augenblick, und er ist ziemlich stolz auf sich. Auf ihrem Ast etwa fünf Meter über ihm lässt sie ihr Bein baumeln und blickt über die Wiese, während sie sich eine Pflicht ausdenkt. Die Mackenzie-Brüder ärgern weiter die Eichhörnchen. Dann lächelt sie und räuspert sich, um ihre Entscheidung zu verkünden.
    »Baileys Pflicht«, beginnt Caroline und macht sie damit unmissverständlich und bindend zu der seinen. Ihm wird mulmig zumute, noch ehe sie sagt, worin die Pflicht eigentlich besteht. Sie legt eine Kunstpause ein und verkündet dann: »Baileys Pflicht ist es, in den Nachtzirkus einzubrechen.«
    Millie schnappt nach Luft. Die Mackenzie-Brüder hören auf, mit Eicheln zu werfen, und blicken zu ihr hoch – die Eichhörnchen sind plötzlich vergessen. Caroline grinst von einem Ohr zum andern und schaut zu Bailey hinunter. »Und als Beweis musst du etwas mit zurückbringen«, fügt sie hinzu, ohne den triumphierenden Unterton in ihrer Stimme verbergen zu können.
    Es ist eine unerfüllbare Pflicht, das wissen alle.
    Bailey schaut über die Wiese zu den Zelten, die wie Berge im Tal hocken. Tagsüber ist der Zirkus so still, ohne die Lichter, die Musik und die Menschenmengen. Nur ein paar gestreifte Zelte, die in der Nachmittagssonne eher gelbgrau als schwarzweiß aussehen. Er wirkt seltsam und vielleicht ein wenig geheimnisvoll, aber nicht außergewöhnlich. Nicht am helllichten Tag. Und auch nicht besonders angsteinflößend, denkt Bailey.
    »Ich mach’s«, sagt er. Er springt von seinem Ast und geht über die Wiese, ohne die Reaktion der anderen abzuwarten, und damit Caroline die Pflicht nicht zurückziehen kann. Sie hat bestimmt gedacht, er sagt nein. Eine Eichel saust an seinem Ohr vorbei, aber sonst geschieht nichts.
    Aus Gründen, die Bailey nicht recht in Worte fassen kann, geht er ziemlich entschlossen auf den Zirkus zu.
    Er hat sich kaum verändert, seit Bailey ihn mit fast sechs Jahren zum ersten Mal gesehen hat.
    Damals war er an genau derselben Stelle aufgetaucht, und nun ist es, als wäre er nie fort gewesen. Als wäre er in den fünf Jahren, in denen die Wiese leer stand, nur unsichtbar gewesen.
    Im Alter von knapp sechs durfte Bailey den Zirkus nicht besuchen. Seine Eltern hielten ihn für zu jung, und so konnte er die Zelte und Lichter nur wie verzaubert aus der Ferne betrachten.
    Er hatte gehofft, der Zirkus würde so lange bleiben, bis er alt genug wäre, doch nach zwei Wochen verschwand er ohne Vorwarnung und ließ den zu jungen Bailey todtraurig zurück.
    Aber nun ist er zurückgekehrt.
    Erst vor wenigen Tagen ist er angekommen und gilt immer noch als Neuheit. Wäre er schon länger hier gewesen, hätte Caroline wahrscheinlich eine andere Pflicht gewählt, doch der Zirkus ist derzeit Stadtgespräch, und Caroline geht bei ihren Pflichten gerne mit der Mode.
    Am Abend zuvor hatte Bailey den Zirkus zum ersten Mal richtig erlebt. Er war mit nichts vergleichbar, was er jemals gesehen hatte. Die Lichter, die Kostüme, alles war so anders. Als wäre er seinem Alltag entschlüpft und in eine andere Welt spaziert.
    Er hatte eine normale Vorstellung erwartet. Etwas, bei dem man auf einem Stuhl sitzt und zuschaut.
    Aber er merkte schnell, wie sehr er sich getäuscht hatte.
    Man musste den Zirkus erkunden.
    Er erforschte ihn, so gut er konnte, obwohl er sich kläglich unvorbereitet vorkam. Er wusste nicht, für welche der vielen Zelte er sich entscheiden sollte, an denen verheißungsvolle Schilder mit Hinweisen auf das jeweils zu Erwartende lockten. Und sobald er auf einem der gewundenen Pfade zwischen den Streifenwänden abbog, tauchten neue Zelte auf, mit neuen Schildern und neuen Geheimnissen.
    Er stieß auf ein Zelt mit Akrobaten und schaute zu, wie sie über ihm herumwirbelten und sich drehten, bis ihm der Nacken weh tat. Er lief durch ein Zelt voller Spiegel und sah Hunderte und Tausende von Baileys, die alle die gleiche graue Mütze trugen und ihn aus großen Augen anstarrten.
    Sogar das Essen war erstaunlich. Äpfel mit so dunkler Karamellglasur, dass sie fast schwarz aussahen, die aber dennoch leicht und süß schmeckten. Schokoladenfledermäuse
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