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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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sie.
    »Ja.« Bailey schaut auf seine abgestoßenen braunen Schuhe und die weißen Stiefel auf der anderen Seite des Zauns. »Wir haben Wahrheit oder Pflicht gespielt«, fügt er hinzu, in der Hoffnung, dass sie ihn versteht.
    Das Mädchen lächelt. Sie beißt sich kurz auf die Unterlippe und wirkt nachdenklich, dann streift sie einen ihrer weißen Handschuhe ab und reicht ihn durch die Stäbe. Bailey zögert.
    »Na, nimm schon«, sagt sie. »Ich hab eine ganze Schachtel davon.«
    Bailey nimmt den weißen Handschuh und steckt ihn in seine Hosentasche.
    »Danke«, sagt er wieder.
    »Gern geschehen, Bailey«, erwidert das Mädchen, und als sie sich diesmal umdreht, hält er sie nicht mehr auf, und sie verschwindet hinter einem gestreiften Zelt.
    Bailey bleibt noch lange stehen, bevor er über die Wiese zurückgeht. Als er die Eiche erreicht, ist niemand mehr da, nur jede Menge Eicheln liegen auf dem Boden, und die Sonne geht schon unter.
    Erst auf halbem Weg nach Hause fällt ihm ein, dass er dem Mädchen nie gesagt hat, wie er heißt.

Partner und Verschworene
    LONDON, FEBRUAR 1885
    M itternachtsdinner haben im Hause Lefèvre Tradition. Kreiert wurden sie von Chandresh aus einer Laune heraus, inspiriert durch eine Mischung aus chronischer Schlaflosigkeit und dramatisch späten Bettzeiten, die mit einer angeborenen Abneigung gegen die Etikette herkömmlicher Tischgesellschaften einherging. Es gibt zwar Restaurants, in denen man auch spätabends noch speisen kann, aber keines davon entspricht Chandreshs Geschmack.
    Und so fing er an, opulente mehrgängige Dinner zu geben, bei denen der erste Gang um Mitternacht serviert wird. Um Punkt zwölf, sowie die Standuhr in der Halle die Stunde schlägt, werden die ersten Teller auf den Tisch gestellt. In Chandreshs Augen erhält das Ganze so eine gewisse Feierlichkeit. Die ersten Mitternachtsdinner waren kleine, intime Treffen unter Freunden und Kollegen. Mit der Zeit fanden sie häufiger statt und wurden aufwendiger, bis sie schließlich eine Art heimliche Sensation wurden. Eine Einladung zu diesen Essen ist in gewissen Kreisen heiß begehrt.
    Die Dinner sind exklusiv. Bisweilen sind bis zu dreißig Leute anwesend, oft jedoch auch nicht mehr als fünf. In der Regel kommen zwölf bis fünfzehn. Unabhängig von der Zahl der Gäste jedoch ist das Essen immer erlesen.
    Chandresh reicht grundsätzlich keine Speisekarten. Bei ähnlichen Veranstaltungen – sofern es denn ähnlich zu nennende gäbe – würde man vielleicht jeden Gang in Schönschrift auf steifem Papier detailliert beschreiben oder verlockende Überschriften und Namen aufführen.
    Aber die Mitternachtsmahle umweht ohnehin schon ein Hauch von Geheimnis, und Chandresh ist der Meinung, dass das Fehlen eines kulinarischen Wegweisers die Spannung noch erhöht. Gericht um Gericht wird an den Tisch gebracht, manches ist leicht als Wachtel, Kaninchen oder Lamm zu erkennen, auf Bananenblättern serviert, im Apfelbett oder mit Weinbrandkirschen garniert. Andere Speisen sind rätselhafter, in süßen Saucen oder würzigen Suppen verborgen, oder unidentifizierbares Fleisch, das in einem Teigmantel oder unter einer Glasur versteckt ist.
    Erkundigt sich eine der Speisenden nach einem Gericht, nach dem Ursprung einer scharfen Note oder eines würzigen Aromas, eines Geschmacks, den sie nicht genau bestimmen kann (denn selbst die feinsten Gaumen können nicht alles erschmecken), erhält sie keine befriedigende Antwort.
    Chandresh erwidert dann nur, die Rezepte gehörten den Köchen persönlich, »und es ist nicht meine Art, ihnen ihre kleinen Geheimnisse zu verwehren«. Die neugierige Dame wird sich wieder dem mysteriösen Essen auf ihrem Teller zuwenden, vielleicht mit der Bemerkung, es schmecke jedenfalls ganz vorzüglich, und sich weiter fragen, woher dieser eigentümliche Geschmack wohl komme, während sie jeden Bissen zutiefst nachdenklich genießt.
    Unterhaltungen sind bei diesen Abendessen hauptsächlich auf die Pausen zwischen den Gängen beschränkt.
    In Wahrheit möchte Chandresh lieber nicht alle Zutaten kennen und nicht jede Zubereitungsmethode verstehen. Er behauptet, erst diese Unkenntnis hauche den Speisen Leben ein und mache mehr aus ihnen als die Summe ihrer Teile.
    (»Ah«, bemerkte ein Gast, als das Thema aufkam. »Sie meinen also, der Blick auf die Rädchen stört beim Lesen der Uhr.«)
    Das Dessert ist jedes Mal verblüffend. Konfekt im Schokoladen- und Toffeerausch, Beeren, die von Creme und Likör nur so
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