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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus
Autoren: Erin Morgenstern
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in welche Richtung er gehen soll und was als Beweis für seinen Besuch im Zirkus zählen könnte. Auf dem kahlen Boden zwischen den glatten gestreiften Zeltwänden entdeckt er nichts Geeignetes. Im Licht sehen die Zelte überraschend alt und verschlissen aus, und er fragt sich, wie lange der Zirkus wohl schon unterwegs ist und wohin er zieht, wenn er seine Zelte abbricht. Bestimmt gibt es einen speziellen Zirkuszug, denkt Bailey, aber am nächsten Bahnhof steht keiner, und soviel er weiß, hat niemand einen solchen Zug ankommen oder abfahren sehen.
    Am Ende des Durchgangs biegt Bailey rechts ab und findet sich in einer Reihe von Zelten wieder, jedes mit einer Tür und einem Schild, auf dem das innen Dargebotene angepriesen wird. Phantastische Höhenflüge steht auf einem, Flüchtige Mysterien auf einem anderen. Als Bailey an einem Zelt mit der Aufschrift Grausige Bestien & seltsame Wesen vorbeikommt, hält er den Atem an, aber von innen ist nichts zu hören.
    Zum Mitnehmen findet er nichts, und ein Schild möchte er nicht stehlen; das Einzige, was offen herumliegt, sind Papierschnipsel und ab und zu ein zertretenes Popcorn.
    Die Nachmittagssonne wirft lange Schatten auf die Zelte und den trockenen Boden, der an einigen Stellen weiß, an anderen schwarz bemalt oder bestäubt ist. Bailey kann die braune Erde darunter sehen, die von unzähligen Füßen freigetreten worden ist. Während er noch auf den Boden blickt und sich fragt, ob die Farbe wohl jeden Abend neu aufgetragen wird, biegt er wieder um eine Ecke – und stößt fast mit einem Mädchen zusammen.
    Sie steht mitten auf dem Weg zwischen den Zelten, einfach so, als würde sie auf ihn warten. Sie ist ungefähr so alt wie er und trägt eine Art Kostüm, jedenfalls keine normalen Sachen: weiße Stiefel mit ganz vielen Knöpfen, weiße Strümpfe und ein weißes Kleid aus allen nur denkbaren Stoffen – Spitze und Seide und Baumwolle, darüber eine weiße Uniformjacke und weiße Handschuhe. Vom Hals abwärts ist sie ganz in Weiß gekleidet, wodurch das Rot ihrer Haare ungewöhnlich leuchtet.
    »Du darfst hier nicht sein«, sagt das rothaarige Mädchen ruhig. Sie klingt nicht verärgert oder gar überrascht. Bailey blinzelt ein paarmal, bevor er die Sprache wiederfindet.
    »Ich, äh … ich weiß«, sagt er und findet selbst, dass ihm etwas Dümmeres nicht hätte einfallen können, aber das Mädchen sieht ihn nur an. »Tut mir leid«, fügt er unsicher hinzu, und das kommt ihm noch dümmer vor.
    »Am besten, du gehst wieder, bevor dich jemand sieht«, sagt das Mädchen mit einem kurzen Blick über die Schulter, ohne dass Bailey weiß, wonach sie Ausschau hält. »Wie bist du überhaupt hereingekommen?«
    »Von dahinten, äh …« Bailey dreht sich um, weiß aber nicht mehr, woher er gekommen ist. Der Weg führt im Kreis, und er sieht keins der Schilder, an denen er vorbeigelaufen ist. »Ich weiß nicht mehr genau«, sagt er.
    »Ist schon gut, komm mit.« Das Mädchen fasst ihn bei der Hand und zieht ihn schweigend einen Gang entlang. Erst als sie eine Ecke erreichen, bedeutet sie ihm, stehen zu bleiben, und sie rühren sich eine ganze Weile nicht vom Fleck. Als Bailey fragen will, worauf sie warten, legt sie nur den Finger an die Lippen, und ein paar Sekunden später geht sie weiter.
    »Passt du durch den Zaun?«, fragt das Mädchen, und Bailey nickt. Das Mädchen biegt hinter einem Zelt scharf ab, in einen Durchgang, den Bailey gar nicht bemerkt hatte, und plötzlich sind sie wieder am Zaun bei der Wiese.
    »Hier durch«, sagt das Mädchen. »Das dürfte gehen.«
    Sie hilft Bailey, sich durch die Stäbe zu zwängen, die an dieser Stelle etwas enger stehen. Auf der anderen Zaunseite dreht er sich zu dem Mädchen um.
    »Danke«, sagt er. Sonst fällt ihm nichts ein.
    »Gern geschehen«, sagt das Mädchen. »Aber du solltest vorsichtiger sein. Du darfst tagsüber nicht hier rein, das ist unbefugtes Betreten.«
    »Ich weiß, tut mir leid«, sagt Bailey. »Was heißt eigentlich ›exsanguiniert‹?«
    Das Mädchen lächelt.
    »›Ausbluten lassen‹«, sagt sie. »Aber ich glaube nicht, dass sie das wirklich machen.«
    Sie dreht sich um und geht wieder zurück.
    »Warte«, sagt Bailey, ohne dass er weiß, warum. Das Mädchen tritt wieder an den Zaun. Schweigend wartet sie darauf, was er zu sagen hat. »Ich … ich soll etwas mitbringen«, sagt er und bereut es sofort. Sie runzelt die Stirn und blickt ihn durch die Stäbe an.
    »Mitbringen?«, wiederholt
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